RB: Sie kamen als „Fremder“ an den Xingu. Wie sind Sie zum „Freund“ der Menschen geworden?
Bischof Erwin Kräutler: Schon damals, als ich im Dezember 1965 hier ankam, habe ich mich nicht als „Ausländer“ oder „Fremder“ empfunden. Ich wurde so herzlich aufgenommen, sodass ich gar nicht anders denken konnte, als zu diesen Menschen zu gehören. Seither sind 59 Jahre vergangen und ich weiß, dass ich hierhergehöre.
RB: Was waren Ihre schönsten Begegnungen?
Bischof Erwin Kräutler: Ich tue mich schwer, die schönsten herauszufiltern. Zwei möchte ich erwähnen.
Die erste fand in einem Dorf der Kayapó statt. Ich hatte mich bemüht, ihre Sprache zu erlernen, damit ich mich besser mit den Indios verständigen und ihnen beweisen konnte, wie sehr ich sie schätze und liebe. Als ich wieder einmal ins Dorf kam, erklärte mir der Kazike: „Du bist kein Weißer, sondern unser Verwandter“ und die Frau des Häuptlings adoptierte mich auch gleich und bat, sie fürderhin nicht mehr Moangri (ihr Name) anzusprechen, sondern „Nhiruwa“ („Mama“).
Die zweite Erfahrung ist aus der Zeit, als ich aufgrund meines Einsatzes für die immer wieder missachteten Menschenrechte der Indios und der armen Bevölkerung unmissverständliche Drohungen erhielt. Hier in Porto de Moz, wo ich in diesen Tagen wieder bin, kam vor dem Schlusssegen der Messe plötzlich eine Frau zum Altar, nahm mir das Mikrofon aus der Hand und sagte: „Dom Erwin, wir wissen, wie es dir geht, aber lass dich nicht einschüchtern. Du weißt, dass wir dich lieben. Du gehörst uns!“. Und es gab Tränen und tosenden Applaus.
RB: Sie sind als Pendler zwischen den Welten bezeichnet worden. Sind Sie in beiden Welten, also Österreich und Brasilien, daheim?
Bischof Erwin Kräutler: Ich habe mich selbst nie als „Pendler zwischen den Welten“ verstanden. Ich bin in den letzten Jahrzehnten zwar öfters nach Europa gereist als in den ersten Jahrzehnten meines Hierseins. Als meine Eltern noch lebten war es mir eine Selbstverständlichkeit, ein paar Wochen bei ihnen zu verbringen, aber ich war dann trotzdem nicht nur in Koblach, sondern sehr viel unterwegs und habe im Ländle vielen jungen Leuten die Firmung gespendet. Oft war ich auch zu Vorträgen, Seminaren und Versammlungen eingeladen und habe diese Termine gerne angenommen. Aufgrund meiner Ämter bei der Bischofskonferenz war ich auch oft in Rom und anderswo.
Ich habe meine Wurzeln nie verleugnet, aber Heimat ist für mich immer dort, wo man sich wohl, geliebt und dazugehörig fühlt.
RB: Sie sind von Koblach über Salzburg nach Altamira. Der Salzburger Erzbischof Andreas Rohracher hat Sie zum Priester geweiht. Sie haben sogar denselben Wahlspruch. Sie sind Absolvent und Ehrendoktor der Universität Salzburg, heute trägt in Salzburg ein Preis Ihren Namen ... Was verbinden Sie mit Salzburg?
Bischof Erwin Kräutler: Zunächst zu meinem Wahlspruch als Bischof. Ich entdeckte erst, als ich einmal schon als Bischof im Salzburger Dom in die Krypta hinunterging. Ich kannte alle Erzbischöfe nach Andreas Rohracher: Eduard Macheiner, der mich damals noch als Weihbischof 1964 im Kolleg St. Josef in Aigen zum Subdiakon und in St. Peter zum Diakon geweiht hat, Karl Berg, Georg Eder, Alois Kothgasser. Selbstverständlich kenne ich auch den heutigen Erzbischof Franz Lackner.
In der Domkrypta sind die Wahlsprüche der Erzbischöfe zusammen mit ihren Namen und ihrer Amtszeit auf jedem der Epitaphe zu lesen. Und da war ich unendlich überrascht, als ich bei Andreas Rohracher, der mich am 3. Juli 1965 zum Priester geweiht hat, den Wahlspruch las, den ich 1980 auch für mein Bischofsamt auswählte: „Servus Christi Jesu“ (Röm 1,1), nur in der Reihenfolge der Worte wie im griechischen Urtext.
Mit Salzburg verbindet mich eine große Liebe zu dieser Stadt und dem Land. Die sechs Jahre Universitätsstudium haben mich geprägt, die Jahre der Auseinandersetzung mit mir selbst, ob der Priesterberuf wohl die richtige Entscheidung ist, dann die Weihe im Dom und der Abschied, als ich bereits den Entschluss gefasst hatte, mein Priestertum in Amazonien zu leben. Ich habe viele Städte kennen gelernt, aber immer, wenn ich gefragt werde, welche für mich die schönste Stadt der Welt ist, gebe ich, ohne auch nur ein bisschen zu zögern zur Antwort: Salzburg.
Und jedes Mal, wenn ich wieder hier bin, mache ich so etwas wie einen Nostalgiespaziergang in der Altstadt, auf den Nonnberg, in den Dom, in die Franziskanerkirche, nach St. Peter, zum Festspielhaus und ihm gegenüber das Gebäude der Theologischen Fakultät.
Mein Glaube hat sich im Laufe der Jahre nicht viel verändert,
sondern eher vertieft.
RB: Was heißt für Sie Nachfolge Christi? Hat sich Ihr Glaube verändert?
Bischof Erwin Kräutler: Mein Glaube hat sich im Laufe meines Lebens nicht viel verändert, sondern eher vertieft. All die Erfahrungen, die ich machen durfte, sind mit meiner Glaubensüberzeugung verbunden. Als ich wenige Monate nach der Priesterweihe nach Brasilien ausreiste, ging ich einer ungewissen Zukunft entgegen. Die Entscheidung war gefallen. Also Abschied von Eltern und Geschwistern und vielen Personen, die mir lieb waren und, sofern sie noch leben, heute noch lieb sind. Auf meinem Primizbildchen hatte ich die Worte aus dem 1. Johnannesbrief drucken lassen: „Daran haben wir die Liebe erkannt, dass Er sein Leben für uns eingesetzt hat. So ist es auch unser Auftrag, das Leben für die Brüder und Schwestern einzusetzen“ (1 Joh 3,16). Und als Priester der Kongregation vom Kostbaren Blut lebe ich aus der Spiritualität des Blutes Christi: Jesu Liebe bis zum Äußersten, bis zu seinem letzten Blutstropfen. Joh 13,1: „Da er die Seinen liebte, liebte er sie bis zum Ende“ – Joh 19,30 „Es ist vollbracht“ – wörtlich übersetzt: „Jetzt ist zum Ende (= Äußersten) gelangt“.
RB: Sie haben sich als Bischof auf Seiten der Armen gestellt. Das war nicht ungefährlich. Wie sind Sie damit umgegangen?
Bischof Erwin Kräutler: Es gab tatsächlich Stunden, die für mich schwierig waren, aber Angst hatte ich eigentlich nie. Man kann nicht fortwährend in Angst und Schrecken leben. So hatte ich einfach ein tiefes Vertrauen auf den Lieben Gott, dass wohl nichts passieren wird. Denn ich war ja nur von einer verschwindenden Minderheit angefeindet worden, weil ich mich für Recht und Gerechtigkeit einsetzte. Und viele der damaligen Gegner geben mir heute sogar Recht, gerade im Zusammenhang mit Belo Monte, weil genau das eingetreten ist, was ich vorhersah. Fünfzehn Jahre lang stand ich zudem unter einem von der Regierung angeordneten Polizeischutz. Mit wirklich sehr wenigen Ausnahmen habe ich nie schlaflose Nächte gehabt.
RB: Als Präsident des Indigenen-Missionsrats CIMI haben Sie für die Rechte der indigenen Völker gekämpft. Wie ist heute die Situation?
Bischof Erwin Kräutler: Siebzehn Jahre war ich Vorsitzender dieses bischöflichen Rates für Indigene Völker. Eines meiner größten Erfolgserlebnisse war, dass es uns gelungen ist, die Indigenen-Rechte in der Verfassung von 1988 zu verankern. Aber der Salto von den Verfassungsparagrafen in die konkrete Wirklichkeit ist nicht vollends geschehen. Im Kongress sitzen mehrheitlich anti-indigene Abgeordnete und Senatoren.
RB: Was können wir von den indigenen Völkern in Sachen Schutz der Mit-Welt und Klimaschutz lernen?
Bischof Erwin Kräutler: Genau das können wir von den Indios lernen, nämlich was die Welt scheinbar nicht von ihnen lernen will: Respekt vor der Mit-Welt, und noch mehr: die Liebe zu unserer Mit-Welt. Die Indios sind keine „Heiligen der Letzten Tage“, aber sie sind uns haushoch überlegen in der Art und Weise wie sie mit der Natur umgehen. Die verdammte Habgier und die skrupellose Ausbeutung der Ressourcen unseres Planeten sind die „strukturellen Sünden“ von Wirtschaft und Gesellschaft. Wir müssen endlich zur Kenntnis nehmen, dass wir nur diese Welt haben und es keinen „Plan B“ gibt.
RB: Die junge Generation steht vielen Ungewissheiten gegenüber. Haben Sie eine Hoffnungs-Botschaft für die jungen Menschen?
Bischof Erwin Kräutler: Ja, ganz ehrlich tut mir die junge Generation irgendwie Leid. Welche Perspektiven haben sie, wie sieht ihre Zukunft tatsächlich aus? Ich denke, diese ungewisse Realität muss uns „ältere“ Menschen doch ermuntern, die Anliegen der Jugend ernst zu nehmen und ihre Demonstrationen nicht zu beschimpfen, sondern sie zu unterstützen, übrigens ganz im Sinne des Weltsozialforums: „Eine andere Welt ist möglich!“
RB: Gerade wird viel über kirchliche Synodalität gesprochen. Wie muss sich Kirche entwickeln, damit sie relevant im Leben der Menschen bleibt?
Bischof Erwin Kräutler: Veränderung? Längst fällige und notwendige Reformen werden auch die lange Bank geschoben. Und Synodalität? Die jetzige Mammut-Synode ist vielleicht der Ankick für ein ganz neues Verständnis von Kirche. Aber solange ein streng hierarchisch gegliedertes System mit einem bis auf den letzten Punkt und Beistrich herausgetüftelten Codex Iuris Canonici das sakrosankte Grundgesetz ist, wird es schwer sein, eine Kirche als synodale Gemeinschaft mit synodaler Teilhabe aller Christenmenschen und mit einer synodalen Sendung aller in die Welt von heute zu verstehen und zu etablieren. Solange in unserer Kirche „Geschlechtergerechtigkeit“ immer noch ein Reizwort ist und die Frauen, die mehr als die Hälfte aller katholischen Gläubigen ausmachen, aufgrund ihres „Frau-seins“ von der Weihe ausgeschlossen sind, wird es nie echte Synodalität geben.
Wissenswert
Ein Leben in und für Amazonien: Bischof em. Erwin Kräutler (Dom Erwin) ist am 12. Juli 1939 in Koblach geboren, er ist Mitglied der Kongregation der Missionare vom Kostbaren Blut. Von 1981 bis 2016 war er Bischof der Prälatur Xingu. Für seinen Einsatz für die Mit-Welt und die indigenen Völker wurde er mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Alternativen Nobelpreis.
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