RB: Nach Baden und Graz sind Sie nun auch Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde in Salzburg. Wie sind Sie zu dieser Position gekommen?
Elie Rosen: In Österreich gibt es nur wenige Menschen, die die Erfahrung aufbringen, um eine kleine jüdische Gemeinde managen zu können. Die letzten Jahre waren in Salzburg von wenig Aktivität geprägt. Da kam die Frage auf, wie es weitergehen soll. Mein Großcousin hat in Salzburg gelebt, ich kenne die Gemeinde aus meiner Kindheit und Jugend und hatte auch einen Wohnsitz hier. Der Ruf, die Leitung zu übernehmen, erging von der Gemeinde an mich. Darüber habe ich mich sehr gefreut.
RB: Wie sehen Sie die Stellung Salzburgs unter den jüdischen Gemeinden im Land?
Rosen: In den 1980er Jahren war Salzburg noch die bestfunktionierendste Provinzgemeinde in Österreich, weil sie einen orthodoxen Kern hatte, der den Shabbat und die Speisegesetze hielt. Das hat sich in den 90ern und 2000ern geändert; es gab mehrere Gründe dafür. Natürlich sterben Mitglieder und Migration spielt eine Rolle. Aber gerade in kleinen Gemeinden sind Streitigkeiten gefährlich. Wenn sich bei einem Reizthema zwei oder drei Gruppen bilden, blockiert das Entscheidungen. Es klingt zwar irritierend, aber die Basisdemokratie kann in solchen Gemeinden gefährlich sein.
Da komme ich heute ins Spiel. Meine Aufgabe ist es, manchmal eben auch zu sagen, wo es lang geht, damit sich der ganze Apparat nicht zersetzt. Insgesamt muss ich sagen: Wenn eine Provinzgemeinde in Österreich die Chance hat, zu punkten, dann Salzburg. Das Klientel von auswärtigen Gästen ist sehr international, durch das Mozarteum und die Festspiele. Obwohl ich die Leitung erst im Jänner übernommen habe, zeigt sich schon jetzt, dass die Nachfrage von Touristen im Sommer und im Winter relativ groß ist.
RB: Wie groß ist die Gemeinde in Salzburg?
Rosen: Wir haben ungefähr 100 Mitglieder in Stadt und Land, aber die Mitgliederzahl allein sagt nichts über Aktivität und Potenzial der Gemeinde aus. Ich kann 300 Juden haben, von denen keiner am Freitagabend oder Samstag zum Gebet kommt. Oder ich kann 80 Mitglieder haben, die präsent sind. Ich werde oft gefragt, was ich mir für die Zukunft wünsche und antworte immer: zwei Busse voller traditioneller Juden. Die Betonung liegt da auf traditionell. Wir brauchen eine Migration von traditionellen Juden, alle anderen werden zum religiöse Leben der Gemeinde nichts beitragen.
RB: Das Leben rund um die Salzburger Synagoge war jahrelang von Marko Feingold geprägt.
Rosen: Das stimmt, von ihm und seiner Biografie. Er hat ja drei Konzentrationslager überlebt und mit seiner Geschichte viele Schülerinnen und Schüler angesprochen. Nach ihm hat sich seine Witwe Hannah als Präsidentin um die Gemeinde bemüht. Ich persönlich habe in Graz von Beginn an gesagt und das ist auch meine Linie in Salzburg: Ich möchte keine Holocaustedukation innerhalb der jüdischen Gemeinde haben. Ich finde, dass diese im 21. Jahrhundert in der Verantwortung der Mehrheitsgesellschaft liegen sollte.
RB: Sie selbst haben Erfahrung mit Antisemtismus gemacht und wurden vor einigen Jahren in Graz angegriffen.
Rosen: Richtig, aber ich versuche, Antisemitismus nicht mein Leben prägen zu lassen. Ich will mich nicht die ganze Zeit damit beschäftigen und sage immer, dass sich durch politische Programme eingefleischte Antisemiten nicht zu Philosemiten wandeln lassen. Aufklärung sollte nicht über den Holocaust erfolgen, sondern über positive Vermittlung. Wenn ich eine positive Auseinandersetzung mit dem Judentum erreiche, dann erreiche ich vielleicht später die Auseinandersetzung mit der Shoa. Jüdinnen, Juden und ihre Gemeinden waren in den Jahrzehnten seit der Shoa stets von dieser Aura der Morbidität umgeben. Jeder, der einem begegnet ist, meinte, man müsse gleich über Konzentrationslager reden. Mir geht das teilweise auf die Nerven, weil ich so das Gefühl habe, Teil einer versunkenen Welt zu sein.
Ich finde es auch seltsam, wenn mich die Leute mit „Shalom“ begrüßen. Innerhalb unserer Gemeinde spricht sich niemand so an. Das gibt dir irgendwie das Gefühl, dass du von einer anderen Welt bist. Ich sag‘ „Grüß Gott“ oder „Auf Wiederschaun“ und gehe – abgesehen vom Inhaltlichen – ja auch nicht zu Katholikinnen und Katholiken und begrüße sie auf der Straße mit „Gelobt sei Jesus Christus“. Da tät mich jeder anschauen. Wir müssen einfach zu einer Normalität der Begegnung gelangen.
RB: Wie haben Sie den jüdischen Glauben als Kind erlebt?
Rosen: Ich bin sehr assimiliert aufgewachsen und komme aus einer Familie, wo mit dem Judentum im Schatten der Shoa sehr verneinend umgegangen wurde. Wenn man nach dem Zweiten Weltkrieg von Opfern gesprochen hat, waren immer nur ermordete Personen gemeint. Was die meisten Menschen vollkommen außer acht gelassen haben, waren die psychischen Opfer: Frauen und Männer, die Zeit ihres Lebens traumatisiert waren, die sich selbst und ihre Identitäten aufgegeben haben. Ich habe das bei meinem Großvater gemerkt, der sein Judentum nie nach außen getragen hat. Niemand sollte wissen, dass er Jude war. Das würde ich als späten Sieg Hitlers bezeichnen. Mir ging es immer darum, diese späten Siege zu besiegen, durch meine Aktivität in den Gemeinden das Judentum sichtbar zu machen und wieder zu beleben.
RB: Wo verorten Sie sich selbst innerhalb des Judentums?
Rosen: Ich bin traditionell und zeitweilig religiös. Ich habe so meine Krisen, weil ich weiß, wie unvollkommen ich in meiner Religiosität bin. In der Einhaltung der Mitzwoth (Anm.: jüdische Religionsgesetze) bin ich keinesfalls perfekt.
RB: Welchen Feiertag haben Sie am liebsten?
Rosen: Ich habe keinen liebsten Feiertag, weil Feste für mich extrem anstrengend sind – sie bedeuten Arbeit. Wenn sie nicht in Arbeit ausufern würden, dann wohl Pessach, weil Pessach mit der Volkwerdung des jüdischen Volkes verbunden ist. Da gibt es viel Symbolik und Reglement, alles ist strukturiert. Das ist mir als Juristen sehr nahe. Aber wenn man Präsident in einer kleinen Gemeinde ist, dann ist die Organisation von Feiertagen intensiv: Dazu gehört die Koordination des Minjans – zehn mündige Juden, damit die Torarollen herausgenommen werden und wir ein vollständiges Gebet abhalten können.
Meine Gemeinden werden alle koscher geführt, also muss man entsprechendes Essen aus Wien oder aus München organisieren. Ein Kantor soll da sein und Hotels müssen gebucht werden, und so weiter. Das ist eines der wenigen Dinge, die ich als Präsident bedaure: Dass ich nicht einfach der sein kann, der in die Synagoge geht, seine Spiritualität auslebt, danach wieder heimgeht und sich denkt, wunderbar, das war‘s. Aber es ist auch sehr schön, wenn man mitgestalten kann.
RB: Sie sind seit acht Monaten Präsident der Salzburger Gemeinde. Was ist Ihr Zwischenresümee?
Rosen: Generell, dass wir nach innen mehr Lebendigkeit erreichen müssen. Wir können natürlich nicht in kurzer Zeit etwas aufholen, was jahrzehntelang nicht geschehen ist – aber ich denke, wir haben in den letzten Monaten viel erreicht. Wir feiern im September das jüdische Neujahrsfest Rosch ha-Schana. Und als Zeichen der Öffnung nach außen wird es nun auch in Salzburg einen Neujahrsempfang der Kultusgemeinde geben.
Seit Ende Jänner haben wir – auch das ist neu – einen hervorragenden Kantor. Er wechselt zwischen Salzburg und Graz. Früher war jeden Samstag die Synagoge in der Lasserstraße geöffnet, aber es kamen kaum Gläubige und es gab kein Minjan. Jetzt haben wir im Zwei-Wochen-Rhythmus offen, dafür am Freitagabend und am Samstag. Und seit Jänner immer Minjan.
RB: Um Energien zu bündeln?
Rosen: Genau. Ich habe in Graz die Erfahrung gemacht, dass das gescheiter ist. Denn so wissen die Leute, die Synagoge ist zwar nur jede zweite Woche offen, aber dafür findet wirklich ein vollständiges Gebet statt.
RB: In den letzten Jahren haben mediale Riesen wie Netflix immer wieder das Thema orthodoxes Judentum in Serien und Filmen thematisiert. Wie sehen Sie diesen Trend?
Rosen: Ich denke, grundsätzlich geben diese Filme und Serien Einblicke in das Judentum und ich möchte gar nicht leugnen, dass das oft sehr authentisch ist. Ich glaube aber gleichzeitig, dass vieles einseitig dargestellt wird, wenn es zum Beispiel um die Darstellung der Rolle der Frau geht. Entweder werden die Frauen ohne jeglichen Willen dargestellt, als minder und abhängig, oder ihre Rolle in der Religion wird herabgewürdigt. Das entspricht nicht dem Bild innerhalb des Judentums. Jemand, der diesbezüglich nicht gebildet ist und keinen Einblick hat, ist geneigt, diesem Bild zu folgen – und das ist gefährlich.
RB: Mit Vorurteilen lebt es sich oft leichter.
Rosen: Ja, wobei ich zugeben muss, dass Juden natürlich auch Stigmen vergeben: die Trachtenträger, die alle Nazis sind. Wenn Marko Feingold mit seinem Trachtenjopperl nach Wien gefahren ist, haben sich alle über ihn echauffiert. Ich bin ein provokanter Mensch. Als ich in die Steiermark gekommen bin, kannte ich einen jüdischstämmigen Trachtenfabrikanten. Bei dem hab ich mir einen Anzug schneidern lassen. Beim nächsten Termin in der Wiener jüdischen Gemeinde habe ich mir den angezogen. Alle haben gesagt: Das kannst du doch nicht bei uns anziehen. Da ist ein Hauch der Entrüstung durchgegangen. Bei uns Juden gibt es das also genauso.
Zur Person
MMag. Elie Rosen, geboren 1971, verhinderte als Jugendlicher den Abriss der Badener Synagoge und erreichte im Jahr 2002 die Wiederinstandsetzung. Rosen studierte Rechtswissenschaften und Betriebswirtschaft und arbeitete einige Jahre als Richter am Asylgerichtshof und am Bundesverwaltungsgericht in Wien.
Heute ist er als freier Konsulent tätig und leitet die jüdischen Gemeinden in Baden, Graz und Salzburg. Zudem ist er Präsident der jüdischen Gemeinden Sloweniens. 2021 wurde Elie Rosen zum Vizepräsidenten der Israelitischen Religionsgesellschaft in Österreich gewählt.
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