RB: Welche Gefühle hat der russische Einmarsch am 24. Februar 2022 bei Ihnen und den Menschen in Ihrem Umfeld ausgelöst?
Vitaliy Mykytyn: Es war trotz der Vorgeschichte ein Schock und für viele ist eine Welt zusammengebrochen. Wir haben nicht gedacht, dass im 21. Jahrhundert in Europa so eine offene Aggression möglich ist. Aber der Krieg zeigt das Gesicht des Bösen und richtet sich nicht nach dem, was wir als demokratische Grundwerte angenommen haben. Es ist Vernichtung, es ist Hass.
RB: Was waren danach für Sie die prägendsten Erlebnisse?
Mykytyn: Dass es bereits in den ersten Tagen nach Kriegsbeginn so viele Gebete in der Markuskirche und im Dom gab, dazu eine Mahnwache und ein Lichtermeer – das hat mich wirklich persönlich berührt. Und prägend war auch das Vertrauen der Menschen in Gott. Ich hatte in der Pfarre so viele schöne Begegnungen. Die Markuskirche ist zu einem interreligiösen, ökumenischen Ort geworden – nicht nur für Geflüchtete, sondern auch für viele Salzburgerinnen und Salzburger, die vor dem Krieg gar nicht so oft in unsere Kirche gekommen sind.
RB: Wie kann man sich diese „Begegnungen“ vorstellen?
Mykytyn: Ein Teil der Menschen hat Zuflucht, Rat, Hilfe und das Gebet gesucht. Andere brachten Sach- und Geldspenden, um den Geflüchteten und den Menschen in der Ukraine beizustehen. Viele haben jemanden gebraucht, mit dem sie über den Krieg sprechen konnten. Dieser Austausch mit den Geflüchteten, das waren sehr wahrhaftige, bewegende Momente. Diese Begegnungen sind für mich wie ein Sakrament geworden – wo Gott wirkt, wo Gott auch für mich wirkt und mich stärkt. Ich sage: Ohne Gott ist das Böse nicht zu besiegen.
Es ist gut, dass wir Gott Fragen stellen – wir sind Suchende.
RB: Beginnen die Menschen bei so einer Prüfung des Glaubens, bei so viel Leid und Unrecht, an einem gerechten Gott zu zweifeln?
Mykytyn: Das ist die Frage nach dem Warum, auf die wir keine sofortige Antwort geben können. Aber es ist gut, dass wir Gott solche Fragen stellen. Das zeigt, dass wir suchende Menschen sind. Dass wir bereit sind, mit Gott – im positiven Sinne – zu „diskutieren“. Das ist für mich etwas Lebendiges. Wenn die Menschen nicht über Gott schimpfen, sondern im biblischen Sinne zu Gott klagen: „Lieber Gott, wie kann das sein? Wie konnte das passieren?“ Aber immer auch verbunden mit der Hoffnung: „Gott, bitte hilf uns – wer außer dir?“
RB: Was hat Sie in den vergangenen zwölf Monaten hoffnungsvoll gestimmt?
Mykytyn: Zum Beispiel, dass bei Demonstrationen gegen den Ukraine-Krieg nicht Hass und Aggressionen verbreitet wurden, wie sie in den Menschen oft durch den Krieg erweckt werden, sondern dass wir Wege suchen, wo wir zueinander finden. Dieses Jahr hat auch gezeigt: Wir können solidarisch sein, wir können Gutes tun. Auch wenn man nur eine Kleinigkeit geben kann, ist das ein großer, unermesslicher Schatz. Es zählt nicht, wie viel man gegeben hat, sondern wie man gegeben hat – mit welchen Gedanken und mit welcher Liebe.
RB: Stichwort „Geben“ – wie groß war die Unterstützung für die Ukraine durch die Salzburgerinnen und Salzburger?
Mykytyn: Überwältigend. Und wir sind sehr dankbar für alle, die der Ukraine beistehen und für den Frieden beten. Direkt an die Pfarre gingen 210.000 Euro, von denen wir bereits 186.000 Euro an Unterstützungen weitergegeben haben. Wir konnten 20 Lkw und viele Kleintransporter mit Hilfsgütern in die Ukraine schicken, darunter in den Wintermonaten 90 Notstromgeneratoren. Wir haben von den Spenden vier Krankenwagen für Spitäler in der Ukraine gekauft. Auch die Erzdiözese und die Stadt Salzburg haben sich mit gespendeten Stromgeneratoren beteiligt. Kirche, Politik und jeder einzelne Mensch, der etwas spendet – alle helfen gemeinsam zusammen. Die einen bringen Essen oder besorgen Schlafsäcke, die anderen nehmen geflüchtete Familien auf. Es passiert sehr viel Gutes.
Verzeihen braucht Zeit. Lasst uns für den Frieden beten!
RB: Haben Sie Hoffnung auf ein Ende des Krieges? Und wie könnte dann die Zukunft aussehen?
Mykytyn: Ich hoffe, dass früher oder später ehrliche Friedensverhandlungen stattfinden. Man braucht nach dem Krieg gute Menschen, die sich bemühen, wieder gute, menschliche Kontakte aufzubauen. Und eines ist klar: Verzeihen braucht Zeit. Lasst uns für den Frieden beten!
Jahresgedenken
Donnerstag, 23. Februar, 18 Uhr, Salzburger Dom
Göttliche Liturgie des byzantinischen Ritus zum Jahrestag des Kriegs in der Ukraine – mit Pfarrer Vitaliy Mykytyn, Erzbischof Franz Lackner sowie weiteren Vertreterinnen und Vertretern der Ökumene.
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