RB: Wie geht es Max? Er lebt jetzt in einer Wohngemeinschaft. Das ist für ihn und für die ganze Familie ein neuer Abschnitt.
Birgit Kubik: Er ist gut angekommen und wirklich gerne in der Wohngemeinschaft. Das heißt nicht, alles ist gut. Er fordert auch dort die Menschen sehr. Aber wir können uns unter der Woche erholen und durchatmen. Das Wochenende ist er dann zu Hause.
Am meisten genieße ich, dass der Zeitdruck wegfällt. Ich muss nicht mehr zu einer exakten Uhrzeit zuhause sein, weil Max schon wartet. Ich kann entspannt auf einen Berg gehen und muss mir keine Sorgen machen, ob es sich ausgeht, dass ich rechtzeitig daheim bin. Ich kann in Ruhe eine Zeitung lesen oder den Haushalt machen. Ins Wochenende mit Max gehen mein Mann und ich dann mit einer anderen, positiven Energie hinein. Wir sind nicht so leicht gestresst. Dadurch ist Max auch entspann-ter. Gleichzeitig sind wir dankbar, wenn er am Sonntagabend wieder in die Wohngemeinschaft fährt. Das Schöne ist, dass er sich darauf freut. Wir sind glücklich, dass wir einen Platz bekommen haben und er so gut für Max passt. Und wir sind dankbar, dass es Menschen gibt, die diese Jobs in der Betreuung machen.
RB: Was war im Alltag am herausforderndsten mit Max?
Kubik: Es war insgesamt extrem anstrengend. Trotzdem hatten wir immer Zuversicht und Humor. Das herausforderndste mit Max ist, dass er sich nicht alleine beschäftigen kann. Er hat keine Tätigkeit, kein Spiel, in das er sich stundenlang vertiefen kann. Das ist bei Autisten oft der Fall. Er hat uns immer gebraucht, nicht nur die physische Anwesenheit, sondern auch die mentale. Ich habe mich ständig mit seinen Gedanken beschäftigen oder Fragen beantworten müssen. Das war anstrengend und kostete viel Kraft.
Warum nicht wir? Mein Gedanke war immer, dass es vorherbestimmt war.
RB: Hat es jemals die Frage nach dem Warum gegeben?
Kubik: Die Frage nach dem Warum haben wir uns nie ernsthaft gestellt. Es war halt einfach so. Wir hatten gar nicht die Zeit darüber nachzudenken. Wir stellten die Frage anders: Warum nicht wir? Wie würden andere Familien mit der Situation umgehen? Mein Gedanke war immer, dass es vorherbestimmt war. In Momenten, in denen ich dachte, ich kann nicht mehr, sagte ich mir: Er ist bei uns, weil wir das trotzdem schaffen.
Wir haben nie die eine, alles niederschmetternde Diagnose bekommen. Es war schleichend. Zuerst waren die Herzoperationen, dann die Lungenentzündungen. Da wussten wir noch gar nicht, was auf uns zukommt und waren weiter optimistisch. Dann merkten wir, er ist langsamer in der Entwicklung. Dann schiebt man das aber auf den schweren Start zurück. Es gab so viele plausible Ausreden. Es hat zudem nie ein Arzt oder eine Ärztin ausgesprochen: Max ist behindert. Erst nach und nach ist das in der Therapie gekommen. Die Physiotherapeutin meinte, Max wird länger brauchen, um Gehen zu lernen. Die Frühförderin meinte, Max wird einen Rollstuhl brauchen. Ich bin aus allen Wolken gefallen. Danach war es ein langsames Hineinwachsen in die unterschiedlichsten Herausforderungen. Die waren bei Max wirklich sehr breit gestreut.
RB: Wie wichtig war die Selbsthilfegruppe, die Sie auch geleitet haben?
Kubik: Der Austausch mit Gleichgesinnten war so wertvoll. Die Lebenssituationen sind anders, die Behinderungen sind verschieden. Jede Familie kämpft mit anderen Problemen. Aber es geht immer ums Kind. Und jede und jeder hat andere Tipps, sei es zu pädagogischen Fragen oder zum Beantragen von Hilfen.
Bei den Treffen mit meinen Freundinnen wollte ich nicht ständig über Max reden. Ich kann gut switchen. Das heißt, bei diesen Begegnungen habe ich das, was daheim war, nicht immer mitgenommen. Dann war ich Birgit und nicht die Mutter von Max.
RB: Sie geben mit sehr liebevollen und auch ehrlichen und direkten Worten Einblick in den Alltag mit Max, in einer Art Tagebuchform. Haben Sie von Anfang an alles aufgeschrieben?
Kubik: Ich habe einen Aufschreib-Tick. In einen Kalender schreibe ich für jeden Tag etwas rein. Das ist für mich eine Art Psychohygiene. Manchmal blättere ich den Kalender durch und denke mir, es ist ein gutes Leben. Es stehen ja auch die schönen Seiten drinnen. Die Arzttermine, Therapien und Krankenhausaufenthalte habe ich ebenfalls alle notiert, genauso wie die Meilensteine. Wenn mir für das Buch wieder eine Episode eingefallen ist, dann habe ich nachgeschaut, wann das genau war und konnte es einordnen.
RB: Was haben Sie beim Schreiben über Max entdeckt?
Kubik: Seit einigen Jahren schon schreibe ich zum Welt-Autismus-Tag im Ennser Stadtmagazin über Max. Wir haben festgestellt, dass Max so viele Menschen kennt, die wir gar nicht kennen. Es ist so schön, dass sich die Leute Zeit für ihn nehmen. Fragen ist sein Lebensinhalt. Wenn wir mit ihm durch die Stadt gehen, redet er die Leute einfach an. Wir sind erstaunt, dass sich fast alle die Zeit nehmen, seine Fragen zu beantworten. Das tut gut.
Zu 99 Prozent waren und sind es positive Reaktionen. Wenn ich sage, Max, es reicht mit der Fragerei, heißt es: Lassen Sie ihn doch. Max fragt die Leute wie sie heißen, wo sie wohnen, ob sie Kinder haben. Beim nächsten Mal erkundigt er sich danach. Das freut die Menschen und sie fühlen sich wertgeschätzt.
RB: Im Buch geht es nicht nur um Defizite, sondern genauso um die Fähigkeiten, die Max hat. Welche Fähigkeit schätzen Sie am meisten?
Kubik: Ich bin über Max mit Menschen ins Gespräch gekommen, mit denen ich sonst nicht gesprochen hätte. Ich habe so die Bewunderung für Menschen entdeckt, die es nicht leicht haben im Leben. Max hat zum Beispiel die Leute beim Würstelstand angesprochen. Das sind seine Freunde und sie sagen, Max ist unser Freund. Ich habe ganz viel gelernt und mich dadurch auch verändert.
Es geht darum, öfter dort hinzuschauen, wo man eigentlich wegschauen oder weghören würde. Uns allen täte es gut, wenn wir uns nicht nur auf uns und unsere Probleme konzentrieren. Ich habe Max als treibende Kraft, als Eisbrecher. Max berührt die Menschen im Herzen. Das zeigen mir die Rückmeldungen.
RB: In einem Kapitel schreiben Sie über die Firmung von Max und über die Reaktion des Pfarrers.
Kubik: Es war anfangs schon die Überlegung: Können wir das den Kirchenbesuchern zumuten? Max hat irritierende Verhaltensweisen. Aber: Wenn nicht in einem Haus Gottes, wo dann? In der Messe ist es für Max so schön, weil der Ablauf stets gleich ist. Als Autist braucht er die Struktur, er weiß gerne, was auf ihn zukommt.
Etwas mehr Begeisterung würde uns allen gut tun. Da können wir uns Max als Vorbild nehmen.
Der Pfarrer und die Menschen aus der Pfarrgemeinde meinten, Max bringt Leben und Stimmung hinein. Er singt laut mit, steht auf und bedankt sich beim Chor. Nach dem Firmgottesdienst sagte der Pfarrer: Wir können uns Max als Vorbild nehmen. Das war unglaublich schön, weil wir das nicht so oft zu hören bekommen haben.
RB: Wie erleben Sie es, wenn in Gesellschaft und Politik wieder einmal über den Begriff „normal“ diskutiert wird?
Kubik: Was ist normal? Das Mittelmaß? Dann wäre es schön traurig um uns bestellt. Es gäbe keine Relativitätstheorie, kein Neujahrskonzert, wenn alle „normal“ wären. Es gibt auch Menschen, die nicht genial sind, die gehören genauso dazu. Das sollte selbstverständlich sein. Es ist normal, verschieden zu sein.
RB: Wie waren schließlich die Reaktionen auf das Buch?
Kubik: Sehr positiv und zwar von unterschiedlichen Zielgruppen. Eltern die ebenfalls behinderte Kinder haben, sagen, sie finden sich im Buch wieder, obwohl ihre Kinder ganz anders sind als Max. Aber er deckt eine breite Palette ab: Rollstuhl, Autismus, ADHS, Zwänge... deshalb fühlen sich so viele angesprochen. Manche erklärten sogar: Ich dachte, du schreibst über unser Kind. Therapeuten und Pädagogen sagen, es ist so interessant, in das System Familie hineinzublicken. Sie bekommen es ansatzweise mit, haben jedoch kaum eine Vorstellung wie der Alltag zuhause tatsächlich aussieht.
RB: Wie hat Max reagiert?
Kubik: Max ist total stolz auf das Buch. Es ist ein neuer Anknüpfungspunkt für Gespräche. Als es erschienen ist, hat er die Menschen gefragt: Hast du mein Buch schon gelesen?
RB: Wollten Sie mit dem Schreiben anderen Familien etwas mitgeben?
Kubik: Wir haben oft gesagt, unser Alltag, der ist so verrückt, das glaubt uns keiner. Da müssen wir ein Buch darüber schreiben. Wir haben selber Bücher über Autismus und von Autisten gelesen. Und aus jedem konnten wir etwas mitnehmen. Da war schon die Überlegung, dass auch mein Buch für andere hilfreich sein könnte. Und: Es musste einmal heraus. Ich habe mich im Februar 2021 hingesetzt und zum Schreiben angefangen und konnte nicht mehr aufhören. Beim Laufen oder Spazierengehen ist mir so viel eingefallen und ich habe mich abends hingesetzt und wieder geschrieben. Das hat mir so gutgetan, alles ablegen zu können. Es war wie eine Therapie.
RB: Was wünschen Sie sich für Max und für Ihre Familie?
Kubik: Für Max wünsche ich mir, dass er sich in seiner neuen Umgebung einen Freundeskreis aufbaut. Für uns als Familie ist es eine Neuorientierung. Ich wünsche mir, dass alle ihren Weg finden. Als nächstes fahren mein Mann und ich einmal länger in Urlaub, das heißt dieses Mal sieben und nicht nur vier Tage.
Normal-verrückter Alltag
Für Birgit Kubik und ihren Mann kommt nach der Geburt ihres Sohnes alles anders als gedacht. Ihr Sohn Max muss mit drei Wochen operiert werden, viele medizinische Maßnahmen folgen. Bald wird klar: Max ist behindert. Später gibt es Namen dafür: Entwicklungsrückstand, atypischer Autismus, zwanghafte Verhaltensweisen, ADHS … Für die Familie ist das Leben mit Max herausfordernd und voller Überraschungen.
Im Tagebuchstil beschreibt die Autorin, verheiratete Mutter von zwei Kindern, den Familienalltag von Max‘ Geburt bis zu seiner Volljährigkeit. Sie erwähnt Glücksmomente des Familienlebens und Meilensteine in der Entwicklung. Doch sie verschweigt nicht, dass das ständige Verfügbar-sein-Müssen anstrengend ist: Max kann nicht allein sein, seine Fragen verlangen Antworten und Therapien, Schulgespräche sowie Arzttermine reihen sich aneinander. Gut, dass das soziale Netzwerk der Familie funktioniert und Kubik gelernt hat zu „switchen“, das heißt ihren kostbaren Freiraum bewusst zu genießen. „Vor allem mein Mann Michael hat mich gut runtergeholt, wenn alles wieder so einschränkend war. Er hat mich immer aufgebaut“, sagt Birgit Kubik.
Birgit Kubik, In seinem Element. Der ganz normal-verrückte Alltag mit unserem autistischen Sohn, Tyrolia 2023, 192 S., 18 € (AT) ISBN: 978-3-7022-4136-0.
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