RB: In Ihrem Buch „Warum wir sind, wie wir sind. Die Medizin entdeckt das Individuum“ (April 2024, Verlag Edition a) heißt es: „Jeder Mensch braucht eine andere Ernährung, eine andere Form der Bewegung oder andere Medikamente“. Was brauchen wir alle gleichermaßen?
Johannes Huber: Zuwendung, Liebe und Geborgenheit. Der Mensch kommt hilflos zur Welt. Deshalb hat die Evolution Mechanismen wie das Bindungs-Hormon Oxytocin geschaffen. Anthropologen sind der Überzeugung, dass Familie seit Anfängen eine wesentliche evolutionäre Ursache innehat, weil dort Erfahrungsaustausch und Prägung stattfinden.
RB: Heute leben wir in einer Individualgesellschaft ...?
Huber: Jungen Menschen ist es noch nie so gut gegangen wie jetzt. Sie haben Unterhaltung und materiellen Wohlstand. Trotzdem: sie sind unglücklich, suizidgefährdet, depressiv oder übergewichtig, brauchen so viel Psychopharmaka wie nie zuvor. Ich bin überzeugt, dass zu viel Individualität krank macht, besonders wenn frühkindliche Prägemomente fehlen. Kinder gehen durch drei große Prägefenster: in der Schwangerschaft, in den ersten drei Lebensjahren und in der Pubertät.
RB: Scheidungskinder oder Kinder, die keine starke Familienstruktur erleben dürfen, sind …?
Huber: … gefährdet! Familie, Zuwendung, Partnerschaft – das brauchen wir Menschen heutzutage dringend. Das bestätigt eine aktuellen Jugendstudie: sie wünschen sich intakte Partnerschaft und Familie! Das sollte uns zu denken geben. Viele Eltern wollen auf nichts verzichten. So liefern etliche ihre Sprösslinge auch im Kindergarten ab, wenn sie Urlaub haben und Zeit für und mit ihren Kindern hätten.
RB: Muss man Familiengründung rational angehen?
Huber: Nein, aber mit Werten und Verantwortungsbewusstsein. Familie bedeutet ein lebenslanger Kitt. Auch medizinisch: ein ewiges Miteinander-Verbunden-Sein, denn zwischen Kindern und Eltern werden Stammzellen ausgetauscht. Für das Verbunden-Sein brauchen Familien Zeit, ein kostbares Gut. Einrichtungen wie der Katholische Familienverband sind dabei wichtig, sie unterstützen Familien beim Miteinander.
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