RB: Wenn Kinder geborgen und liebevoll aufwachsen, entwickeln sie Urvertrauen. Bei (jungen) Erwachsenen sind dieses Urvertrauen und die Zuversicht immer öfter verschüttet.
Melanie Wolfers: Soziologische Studien zeigen, dass sich das Gefühl von Ohnmacht in den vergangenen Jahren sehr ausgeprägt und verbreitet hat. In Deutschland etwa schauen 70 Prozent mit wenig Zuversicht in die Zukunft. Das hat viele Gründe wie Klima, Krieg und Corona-Pandemie…
RB: Haben Sie sich deshalb so intensiv mit Ohnmacht auseinander gesetzt?
Wolfers: Das war natürlich einer der Anlässe, weshalb ich das Buch geschrieben habe. Das Gefühl von Ohnmacht hat sich verbreitet und gesellschaftliche Krisen haben dazu beigetragen. Es war mir aber auch wichtig zu verdeutlichen: Die Erfahrung von Ohnmacht gehört zum Leben. Nur haben wir in der Moderne diesen Aspekt gerne in den Hintergrund gedrängt. Wir glauben, wir kriegen alles immer sicherer in den Griff und können allen Krankheiten vorbeugen. Da hat Corona gezeigt: Wir sind Entwicklungen auch ausgeliefert. Ohnmacht ist eine Grundkonstante unseres Daseins. Es ist so wichtig, dass wir bewusst mit diesem Gefühl umgehen, damit es uns nicht auf Dauer lähmt.
RB: Ohnmacht zu erleben kann so unangenehm sein, dass Menschen Verschwörungstheorien anhängen, nur um ein Gefühl von Kontrolle zurückzugewinnen. Wie können wir dem entgegenwirken?
Wolfers: Ohnmacht ist einfach ein bedrängendes Gefühl. Ich fühle mich hilflos, ausgeliefert, als ob mir der Boden unter den Füßen weggezogen wird; ich fühle mich schwach und kann mein Leben nicht gestalten. Weil dieses Gefühl so schrecklich ist, verdrängen wir es gerne.
Ein typischer Verdrängungsmechanismus ist die Wut. Das kennen viele. In Beziehungen fällt es häufig leichter, auf einen geliebten Menschen wütend zu sein, als sich einzugestehen: Ich spüre einen tiefen, ohnmächtigen Schmerz über die Distanz, die zwischen uns entstanden ist.
Wenn ich Unveränderliches annehme, kann ich wieder andere Lebensräume entdecken.
Andere Ausweichmechanismen sind Schuldgefühle und Schuldvorwürfe. Studien sagen beispielsweise, dass Frauen nach einer Fehlgeburt ganz oft Schuld empfinden. Sie werfen sich vor, nicht genügend auf sich und ihr Kind aufgepasst zu haben. Scheinbar fällt es unserer Seele leichter, sich schuldig zu fühlen als sich die Ohnmacht angesichts des Todes einzugestehen. Doch nicht nur Schuldgefühle sind eine typische Maske, unter der sich Ohnmachtsempfinden versteckt, sondern auch Schuldvorwürfe. Es fällt offensichtlich leichter, zu sagen: Da ist jemand Mächtiger im Hintergrund, der hat das verursacht, als anzuerkennen, wir sind als Weltgesellschaft zum Beispiel Pandemien ein Stück ausgeliefert. Dem müssen wir auf die Spur kommen: im persönlichen und im gesellschaftlichen Leben. Das habe ich in den Zeiten der Pandemie etwas vermisst. In den öffentlichen Debatten haben wir darüber gesprochen, wie wir das jetzt regeln. Das war notwendig. Vermisst habe ich Gesprächsräume, um darüber zu reden, was diese Ohnmachtserfahrung mit uns macht. Es geht darum, dieses Gefühl wahrzunehmen und zu besprechen, damit wir konstruktiv damit umgehen können.
RB: Sie kritisieren die weit verbreitete Überzeugung: Alles hat sein Gutes. Es gibt im Leben Risse, die lassen sich nicht kitten. Haben wir verlernt, damit umzugehen?
Wolfers: Es gibt einfach Tragik und Schlimmes. Das Wort „Resilienz“ benennt zweifelsohne Wichtiges: nämlich die Kraft, wieder aufzustehen und aus Krisen etwas zu gewinnen – da steckt schon ganz viel drinnen. Doch mir scheint, dass der Begriff etwas einseitig verwendet wird. Denn es ist auch Realität, dass wir Dinge nicht verändern können, dass wir nicht die seelische Kraft haben, etwas zu bewältigen. In einer schlimmen Krankheit ist akut nur Schmerz da. Da kann ich weder einen Sinn sehen und ich kann auch nicht resilient aufstehen. Es tut einfach nur weh. Ich glaube: Es gibt Situationen im Leben, da braucht es die Kraft des Erduldens und des Aushaltens.
Das hört sich vielleicht nach lebensfeindlicher Selbstaufgabe an. Aber indem ich Unveränderliches annehmen lerne, gewinne ich etwas. Denn wenn ich mich auf Dauer an etwas reibe, dann reibe ich mich auf und werde wund. Wenn ich es aber zu akzeptieren lerne, kann ich wieder andere Lebensräume entdecken.
RB: Wann fühlten Sie sich zuletzt ohnmächtig?
Wolfers: Ich hatte neun Monate lang Long Covid. Ich war Monate aus dem Beruf draußen. Da war ich ohnmächtig. Ein kleiner Virus hat es mir auf einmal unmöglich gemacht, zu denken, zu lesen, mich mit Menschen zu treffen. Alles war so anstrengend. Jetzt bin ich fast wieder die Alte.
RB: Wie sind Sie damit umgegangen?
Wolfers: Da war die Zuversicht, es wird wieder aufhören. Und es gab den Punkt, dem Schweren noch mal Fragen vorzulegen: Wozu kann das für mich eine Chance und Gelegenheit sein? Mir hat es gezeigt, in welch gute Beziehungen ich eingebettet bin. Und es hat mir den Blick geweitet für Menschen, die von ihrer Natur her oder aufgrund einer Krankheit oder des Alters wenig Kraft haben. Ich bin ein kraftvoller Mensch und zu spüren, wie sich das anfühlt, hat mich in Begegnungen feinfühliger werden lassen.
RB: Glaube gibt Halt. Kann er auch Ohnmacht überwinden?
Wolfers: Gläubige Menschen erfahren sich in einen großen Zusammenhang eingebettet. Als Christin ist das die Hoffnung, ich kann nicht tiefer fallen als in Gottes Hand. Das gibt mir einen Boden unter den Füßen, der Vertrauen freisetzt und Zuversicht schenkt.
RB: Sie schreiben im Buch über sieben Haltungen des Lebens, die in der Not tragen und Energie freisetzen: Dankbarkeit, Freude, Vertrauen, Verzeihen, Zuversicht, tatkräftiges Hoffen und Innehalten. Welche ist am wichtigsten?
Wolfers: Das Schöne ist, man kann überall ansetzen. Entscheidend ist, diesen Punkt zu finden, an dem ich eine kleine Akzentverschiebung in meinem Leben angehen kann. Ich möchte das anhand eines Bildes verdeutlichen: Wenn bei Zuggleisen die Weichen umgestellt werden, ist es auf dem ersten Meter ein Zentimeter, nach zehn Metern zehn Zentimeter… auf lange Sicht landet der Zug ganz woanders.
Im Leben kann das eine kleine Weichenumstellung hin zu einem mutigeren wie konstruktiveren Umgang mit Ohnmacht und Hilflosigkeit sein. Dankbarkeit, Zuversicht, Gemeinschaft, Beziehung pflegen… Da gibt es keine Sache, die besonders wichtig ist. Ich würde sagen: Schau, zu welcher Haltung du einen Zugang hast und Freude spürst, und fang dort mit einer Weichenverschiebung in deinem Leben an.
Buchtipp
Melanie Wolfers zeigt in ihrem neuen Buch auf, wie wir besser mit Situationen umgehen können, in denen wir uns ausgeliefert fühlen. Sie entfaltet sieben Grundhaltungen, die helfen, der Ohnmacht ihre Macht zu nehmen und die Kraft zu entdecken, die in uns wohnt.
Seit 2004 lebt Melanie Wolfers in der Ordensgemeinschaft der Salvatorianerinnen in Wien. Sie ist Bestsellerautorin, Rednerin und betreibt den Podcast GANZ SCHÖN MUTIG – dein Podcast für ein erfülltes Leben. Infos: melaniewolfers.at
Melanie Wolfers, Nimm der Ohnmacht ihre Macht. Entdecke die Kraft, die in dir wohnt, bene 2023, München, 208 S., 19,90 € , ISBN 978-3-96340-252-4.
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