Die Betroffenen schweigen – aus Scham, Angst, Schuldgefühl. „Die soziale Isolation und der Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben macht es Menschen mit Geldsorgen schwer, ihre Lage zu verbessern. Ihnen kommen Ansprache und Netzwerk abhanden“, bringt es Daniela Brodesser auf den Punkt. Die 49-Jährige ist vierfache Mutter; wegen schwerer Erkrankungen in ihrer Familie war sie selbst in die Armut geraten. Doch sie fand einen Ausweg aus ihrer Lage und ist seither als Aktivistin und Autorin unterwegs, um zu informieren und Vorurteile abzubauen.
Kürzlich hat die Gesundes Österreich GmbH ihre Studienergebnisse zur Ernährungsarmut in Österreich vorgestellt. 1,1 Millionen Menschen in Österreich – das sind zwölf Prozent – sind von moderater Ernährungsunsicherheit betroffen, 420.000 Personen (4,6 Prozent) davon schwer. Brodesser: „Moderat bedeutet, dass nicht jeder Monat ein finanzieller Krisenmonat sein muss. Doch kommen unerwartete Zahlungen wie eine Autoreparatur oder eine Betriebskosten-Nachzahlung, dann geht sich der Einkauf von ausreichend und guten Lebensmitteln bis zum Monatsende einfach nicht aus. Von schwerer Ernährungsarmut sprechen wir, wenn Menschen Monat für Monat nicht ausreichend Geld für Lebensmittel zur Verfügung haben.“
Aus eigener Erfahrung weiß sie, was Mütter und Väter dann machen. Sie greifen zu den billigsten Nudeln aus Weizen, statt etwa Vollkornprodukte nach Hause zu tragen. „Man schnappt das, was satt macht und wenig kostet. Toastbrot erfüllt diese Zwecke. Auf Dauer gesund ist es nicht.“ Statt Marken- wird Diskontware angeschafft und reduzierte Produkte, deren Ablaufdatum naht, sind mögliche Rettungsanker, um ein wenig Abwechslung in einen ohnehin oft tristen Speiseplan zu bekommen.
Armut ist deshalb oft so gefährlich, weil sie gleich mehrere Generationen in einer Familie belasten kann.
„Mich ärgert das Vorurteil, dass Familien mit wenig Geld nicht selbst kochen und den Kindern nur Fertigpizzas servieren. Beides würde das Familienbudget viel zu sehr belasten. Nudeln mit Butter oder Kartoffeln mit Butter sind hie und da eh schön, aber wer isst das gerne 30-mal im Monat?“, fragt die Oberösterreicherin, die schnell gelernt hat, wie sie Kartoffeln in allen Varianten so günstig wie möglich zubereitet. Ein weiterer Satz, der sie nervt: „In Afrika geht es den Menschen ja viel schlechter.“ Armut bemesse sich am Standard einer Gesellschaft, gibt die Aktivis-tin zu bedenken.
Wer an oder unter der Armutsgrenze lebt, hat neben dem Ernährungsthema mit weiteren gravierenden Problemen zu kämpfen. Stichwort soziale Isolation. „Wer nicht mithalten kann, dem fehlt die Teilhabe“, sagt Daniela Brodesser. Armut sei deshalb oft so gefährlich, weil sie gleich mehrere Generationen in einer Familie belasten kann. Kinder, die weniger unterwegs sein und erleben können, entwickeln nachweislich weniger Fähigkeiten und wählen Ausbildungen, durch die sie der Armutsfalle nur schwer entkommen. „Die meisten Kinder aus armutsbetroffenen Haushalten suchen sich so schnell wie möglich eine Lehrstelle. Und das sind oft Stellen, bei denen man selbst ausgelernt nicht über die Armutsgrenze hinauskommt. Deshalb bin ich eine Verfechterin von Ganztagsschulen. Kinder können lernen, die Eltern müssen keine Nachhilfe bezahlen.“
Reden hilft!
Kürzlich war Daniela Brodesser im Schloss Mondsee zu Gast. Im „Salon22“ der Frauen:Fachakademie war sie mit erfolgreichen, gut situierten Business-Frauen im Austausch. Eine Wohlfühl-Umgebung für die Armuts-Aktivistin? Sie nickt und sagt: „Absolut. Denn immer wieder treffen sich in solchen Konstellationen zwei Welten, die im Leben eben nicht aufeinanderprallen.“ Man wohne nicht in denselben Gegenden, man treffe sich nicht beim Einkaufen, im Café sowieso nicht. „Menschen, denen es finanziell gut geht, haben zur Armut in der Regel keinen Bezug, außer über Charity-Projekte.“ Indem Brodesser die Welten verbindet, schafft sie Verständnis und trägt dazu bei, Vorurteile auf beiden Seiten abzubauen.
Was rät Daniela Brodesser Menschen, die in die Armut abzurutschen drohen? Zentral ist für sie das offene Reden und der Besuch einer guten Beratungs-Einrichtung. „Niemand muss durch die Not allein durch und krank werden vor Sorge. Reden hilft. Auch, wenn man merkt, dass es anderen Menschen im Umfeld schlecht geht: Bieten Sie Hilfe an, recherchieren Sie gemeinsam, begleiten Sie.“
Buchtipp
Über Armut wisst ihr nichts. Daniela Brodessers ungeschönter Bericht über armutsbedingte Ausgrenzung, Sie hat den Teufelskreis aus Stigmatisierung und sozialer Entfremdung erlebt, der mit Armut einsetzt, kennt die guten Ratschläge von Wohlmeinenden, die beschämend wirken. Und sie zeigt, was geboten ist, um Armut nicht zur Sackgasse für Betroffene werden zu lassen.
Daniela Brodesser, Armut, Kremayr & Scheriau, Wien, 2023, Hardcover, 104 S., 20 €, ISBN 978-3-218-01399-4.
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