Wie geht es einem Menschen, der angeschossen wird und dann keine Möglichkeit hat, ins Krankenhaus zu gehen? Es ist eine rhetorische Frage, die Vilma Vera stellt. Sie kennt die Antwort. Zweimal schon war sie in dieser Situation. „Die Kugeln stecken noch in meinem Körper, aber ich lebe.“
Die junge Mutter gehört zum indigenen Volk der Avá Guarani. Sie leben in Guassu Guavirá im Westen des südbrasilianischen Bundesstaates Paraná. Es ist ihr Land, das ihnen laut Verfassung zusteht. Doch die Avá müssen für die Demarkierung (Kennzeichnung) kämpfen. Der Fall liegt beim Obersten Gerichtshof. Die Entscheidung lässt auf sich warten. Warum? „Genau das fragen wir uns auch. Warum werden wir bedroht. Warum müssen wir kämpfen, wenn doch die Verfassung seit 1988 die indigenen Rechte garantiert?“
Für die Regierung steht die Wirtschaft an erster Stelle.
Indigene Rechte zählen dann nicht.
Die Lage für die Indigenen wird nicht besser, sondern schlechter. Seit 2013 nehmen die Angriffe zu. Gewalt gehört für Vilma Vera zu ihrem Alltag. „Manchmal denke ich: Das schaffen wir nicht. Im selben Moment kommen mir die Kinder und die Alten in unserem Dorf in den Sinn. Es braucht jemanden, der sich vor sie stellt und die Kugeln abfängt. Damit unser Volk eine Zukunft hat, müssen wir bereit sein, unser Leben zu opfern. Es geht nicht nur um Land, es geht ums Überleben.“ Am schlimmsten sei die andauernde Gewalt und Unsicherheit für die jungen Leute. „Sie werden depressiv. Die Behörden wiegeln ab und sagen, die indigenen Jugendlichen haben halt nichts zu tun. Sie sehen nicht, dass dieser Konflikt die jungen Menschen krank macht. Die Selbstmordrate steigt.“
Die Frauen stehen bei der Verteidigung der Rechte in der ersten Reihe. „Bei einem Angriff versammeln wir Frauen uns im Gebetshaus. Wir singen und beten. Das gibt uns Kraft und die Angst vorm Sterben geht weg. Traurigerweise müssen noch immer Menschen sterben, damit wir zu unserem Recht kommen.“ Und weiß Vilma Vera: „Was uns passiert, das passiert überall in Brasilien.“
Das bestätigt Luis Ventura, Generalsekretär von Cimi. Er hat Vilma und eine weitere indigene Vertreterin vor kurzem nach Genf zum Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen begleitet. Sie berichteten dort und bei ihrem Zwischenstopp in Salzburg über die Angriffe und die Auswirkungen. „Auf internationaler Ebene aufzutreten ist wichtig. Es erzeugt Druck auf Brasilien die Gesetze einzuhalten.“ Ventura hat auch eine Forderung an Europa: „Stellt den Handel nicht über die Menschenrechte.“ Es gebe europäische Firmen, die vom Landraub indigener Gebiete profitieren. „Diese Unternehmen müssen sanktioniert werden.“
Cimi ist der Rat der Brasilianischen Bischofskonferenz für die Indigenen Völker. Der emeritierte aus Vorarlberg stammende Bischof Erwin Kräutler war 16 Jahre lang Cimi-Präsident. Er hat sich unermüdlich dafür eingesetzt, dass die Rechte der Indigenen in die Verfassung kommen. Heute geht es darum, dass der Staat die Verfassung ernst nehmen muss. Bis jetzt sind gerade einmal 1.298 indigene Gebiete erfasst. Und nur 477 davon sind als Schutzgebiete ausgewiesen. „Für die Regierung steht die Wirtschaft an erster Stelle. Die Interessen von internationalen Bergbauunternehmen, der Holzindustrie oder große Infrastrukturprojekte wie Wasserkraftwerke gehen vor.“
Mit Präsident Lula da Silva gebe es zwar mehr Dialog zwischen Regierung und Indigenen wie mit dem ultrarechten Vorgänger Jair Bolsonaro. „Aber in der konkreten Frage der Kennzeichnung von indigenen Gebieten hat sich wenig verändert.“ Dabei sei das entscheidend. „Das Fehlen der Demarkierung ist der Kernpunkt für die anhaltende Gewalt. Wenn die Gebiete nicht demarkiert und abgesichert sind, dringen Großgrundbesitzer und Landräuber ein und verdrängen die Indigenen mit Gewalt. Eine Gewalt, die in vielen Fällen unbestraft bleibt.“
Cimi publiziert jährlich den viel beachteten Bericht zu Gewalt gegen indigene Völker. Die Zahlen sind Besorgnis erregend. 2023 wurden in mindestens 202 indigenen Territorien in 22 Bundesstaaten Brasiliens 276 Fälle von Besitzinvasionen, illegaler Ausbeutung von Naturressourcen und verschiedene Sachschäden registriert. In 411 Fällen kam es zu Gewalt gegen Personen, darunter waren 208 Morde und 17 Totschläge. Im Vorjahr wurde mit 2.203 Fällen die höchste Zahl von Landkonflikten seit Beginn der Erhebungen 1985 verzeichnet.
„Ihre Namen waren Gustavo und Samuel. Das jüngste Opfer war erst dreizehn Jahre alt“, gibt Erilza Braz dos Santos den Toten eine Identität. Sie berichtet, dass der Teenager mit einem Kopfschuss hingerichtet wurde. Der Täter war nicht wie in vergleichbaren Fällen ein von einem Großgrundbesitzer gekaufter Pistolero, sondern ein Polizist. „Es gab Beweise und es kam sogar zur Verhaftung. Doch der Polizist war bald wieder auf freiem Fuß.“ Erilza ist Vize-Kazikin (Anführerin) des Volkes der Pataxó. Ihr Dorf liegt im indigenen Gebiet Barra Velha im Süden des Bundesstaates Bahia. Seit Jahren, so erzählt sie, komme es zu Übergriffen der Polizei. Vilma Vera bestätigt das und ergänzt. „Die Polizei beschützt uns nicht. Im Gegenteil, sie will uns zu Tätern machen. Sie hacken unsere Mobiltelefone, überwachen unsere Kommunikation und sagen sogar: Wir sind die Invasoren, wir sind die Kriminellen.“
Einschüchtern lassen sich die beiden Frauen trotz allem nicht. „Es wurden schon 15 Prozesse gegen mich eingeleitet. Egal wem, Polizist oder Richter, ich sage jedem die Wahrheit ins Gesicht“, lässt Erilza keine Zweifel an ihrer Entschlossenheit. Sie betont, dass die Indigenen mit Cimi einen starken Partner an ihrer Seite haben. „Sie beraten uns und vermitteln Anwälte.“
Für Luis Ventura sind die Indigenen nicht nur Opfer. „Die indigenen Völker gehen ihren Weg. Sie lehren uns, dass wir selbst unter den widrigsten Umständen nicht aufgeben sollen. Es ist immer Hoffnung da.“ Und: Die Indigenen sind für die ganze Welt eine gute Nachricht oder die Lösung, „die wir nur verstehen müssen“. So würden sie in einer „heiligen Verbundenheit“ mit der Erde leben. „Bei globalen Herausforderungen wie Umwelt- oder Klimaschutz sind sie uns weit voraus.“
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