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Die Wurzeln von Naim Mohseni liegen in Afghanistan. „Ich bleibe immer der Junge aus Afghanistan.“ Obwohl er keine eigenen Erinnerungen hat. Seine Eltern flohen mit dem damals Zweijährigen in den Iran. Seit 2016 ist er in Salzburg, macht eine Lehre als Kellner. Der Pfarrhof Salzburg-Herrnau ist sein Zuhause. Hier erreichen ihn die dramatischen Nachrichten der vergangenen Wochen. Vor kurzem war der Salzburgring wieder Fixpunkt für Fans elektronischer Klänge. „In Kabul gibt es auch ein bekanntes Musikfestival, das Männer und Frauen von überall her anzieht“, erzählt Naim Mosheni. Er hält kurz inne. „Das gab es einmal.“ Ihm ist klar, Gedanken an Konzerte verschwendet in der afghanischen Hauptstadt gerade niemand. „Die Menschen fürchten um ihr Leben.“ Sie saß im Auto und weinte nur noch Wie der Rest der Welt war er von der Offensive der radikalislamischen Taliban überrascht. „Ich habe nicht gedacht, dass der Präsident so rasch abhaut.“ Verfolgt hat er die Entwicklungen während eines Urlaubs mit seiner Verlobten und der Schwiegermutter. „Sie ist im Auto hinten gesessen. Wenn ich in den Rückspiegel schaute, hab ich sie immer nur weinen gesehen. Ihr Bruder und ihre Schwester versuchten wie so viele andere zum Kabuler Flughafen zu kommen. Sie hatten keine Chance. Alle Wege waren dicht.“ Die Familien, erzählt Mosheni, ließen nun ihre Dreizehn- und Vierzehnjährigen nicht mehr raus. „Nicht einmal in den Garten dürfen sie. Die Taliban sollen nicht erfahren, dass Mädchen im Haus wohnen.“ Zu groß sei die Furcht vor Verschleppung und Zwangsheirat. „Die Frauen dürfen unter den Taliban nichts machen, vor allem für Gebildete ist es sehr gefährlich. Die Extremisten wollen, dass sie in der Gesellschaft keine Rolle mehr spielen.“ Noch vor einem Monat konnten Frauen normal auf die Straße. „Nun müssen sie Burka tragen“, schüttelt der 24-Jährige den Kopf, der die große Sorge hat, dass Kabul und das ganze Land im Terror oder gar Bürgerkrieg versinken. „Das bedeutet nur eines, noch mehr Tote.“ Frauen und Kinder in Sicherheit bringen Naim Mohseni wuchs ab dem zweiten Lebensjahr im Iran auf. „Ich wollte unbedingt bald nach Afghanistan und erkunden, wo meine Wurzeln sind.“ Jetzt sei er nur traurig, wenn ihn jemand fragt: Woher kommst du? Die Öffentlichkeit sagt er, schaut momentan noch auf das Land am Hindukusch. „Was ist in einigen Wochen? Was ist, wenn andere Katastrophen die Schlagzeilen beherrschen?“ Er wünscht sich, dass Afghanistan nicht vergessen wird und Österreich Frauen und Kinder aufnimmt, „damit sie in Sicherheit sind“.
Die Geschehnisse in Afghanistan bewegen den Salzburger Stadtpfarrer Alois Dürlinger sehr. Er sucht nach Erklärungen, warum etwa die Taliban das Land so schnell erobern konnten. „Das Volk leidet enorm und hat große Angst. Einem Teil sind die ausländische Militärs des Westens jedoch noch verhasster als die Taliban“, sagt er und fügt hinzu: „Das von außen zu durchschauen ist unmöglich.“ Der gebürtige Pinzgauer ist geflüchteten Menschen seit Jahren verbunden. Er hat sie im Pfarrhof aufgenommen, er lebt mit ihnen und setzt sich als Flüchtlingsbeauftragter der Erzdiözese für sie ein. Dafür musste er einiges aushalten. Das Bedrängendste in diesen Tagen sei das Gemenge aus brutaler Politik sowie Glaube und Religion. Das bringe ihm gehäuft schonungslose Anfragen ein. „Jemand meinte wörtlich: Meinst du nicht langsam, dass eine Welt ohne Religion und Gott nicht friedlicher wäre als eine mit?“ Seine Erwiderung sei zunächst ein Satz, von dem er die Herrkunft nicht kenne, den er aber unterstreiche. Vernunft ohne Glaube ist kalt. Und: Glaube ohne Vernunft ist gefährlich. „Den zweiten Teil erleben wir gerade in seiner schlimmsten Ausfaltung.“ Doch Religion, betont Dürlinger, können wir nicht ein- und ausschalten. „Religion ist so alt wie die Menschheit und nicht in unserer Verfügbarkeit.“ Das sei auch nicht der Schlüssel zum Problem.Vielmehr gehe es darum, welcher Weg des Glaubens die Oberhand behalte. „Einer, der auch mit Vernunft durchdrungen ist“, ist Dürlingers Antwort. Wenn sich eine Terrorgruppe anmaße, ihr „religiöses Gesetzeswerk“ blindlings durchzusetzen, „das aus dem 7./8. Jahrhundert stammt, dann sei das einfach nur irre“.
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