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Kein Tag ohne Schlagzeilen über Krisenhaftes im Weltgeschehen. Hunger, Pandemie, Krieg, Wirtschaft. Wo früher guter Rat teuer war, sehen sich Wissenschaft und Forschung heute mit Fake News und Unglaubwürdigkeitsvorwürfen konfrontiert. Was macht das mit Forschung und Gesellschaft und wie ist damit umzugehen? Das Rupertusblatt hat beim in den USA lehrenden Sozialethiker Clemens Sedmak nachgefragt. von Lisa Schweiger-Gensluckner RB: Wo stehen Wissenschaft und Forschung in Krisenzeiten – sind sie auf der Gewinner- oder Verliererseite und weshalb? Clemens Sedmak: Gewinnerin, weil sich in schwierigen Zeiten mit neuen Entwicklungen Fragen nach Anhaltspunkten stellen, also nach Daten. In der Pandemie wurden politische Entscheidungen mit wissenschaftlichen Forschungsergebnissen begründet, im Ukrainekrieg ist es wichtig, Daten über das Kriegsgeschehen zu haben, aber auch Fragen nach Ursachen, Implikationen, Zukunftsszenarien, völkerrechtlichen Konsequenzen zu stellen. In einer Krise kann man nicht mehr so weitergehen wie bisher. Da stellen sich Fragen nach einem neuen Weg, einer neuen Ausrichtung. Und hier kann die Wissenschaft dienen. Dabei bleibt freilich das entscheidend, was man Weisheit und Klugheit nennen mag – ein „Wichtigkeitswissen“, ein Wissen um das, was zählt. RB: Inwiefern verändern große Krisen wie Pandemie, Krieg und der Einbruch der Wirtschaft die Forschung? Haben Sie konkrete Beispiele? Sedmak: Jede Krise hat ihre eigene Kraft. Die Corona-Pandemie hat die empirische Forschung massiv erschwert, die Mobilität der Forschenden wurde eingeschränkt, der Konferenzbetrieb zurückgefahren. Ich kenne einige Kolleginnen und Kollegen, die ihre Forschungsprojekte – etwa Forschung zur ökologischen Situation in Ostafrika – um zwei Jahre verschieben mussten, weil sie nicht reisen konnten. Eine Kollegin hat Feldforschungen zum Friedensprozess in Kolumbien nicht durchführen können, ein Freund von mir konnte ein Projekt zur Krankenhaus-ethik nicht verfolgen, weil die Gesprächspartner schlichtweg keine Zeit hatten.Die Energiekrise, in der wir uns gerade befinden, schließlich, motiviert Forschung zu alternativen Energiequellen; allerdings sehen sich viele Kolleginnen und Kollegen gezwungen, auf die Dringlichkeit der ökologischen Krise aufmerksam zu machen. RB: Wie wirkt sich der Krieg in der Ukraine aus? Sedmak: Die russische Invasion hat die akademische Welt zu Solidarität mit ukrainischen Wissenschafterinnen und Wissenschaftern aufrufen lassen. Die Universität von Notre Dame, an der ich arbeite, hat beispielsweise ein Programm entwickelt, durch das Studierende wie Lehrende ein Jahr in Notre Dame verbringen können. Wir haben auch wegen des Krieges auf Wunsch unserer ukrainischen Partner-universität neue Forschungsprojekte angestoßen, etwa zu Resilienz oder zum Wiederaufbau nach einem Krieg. Hier wird die Expertise von kroatischen Universitäten, die den Krieg der frühen 1990er Jahren bearbeiten, auf neue Weise relevant. Zugleich entsteht neuer Forschungsbedarf, etwa die Frage nach dem Profil von „Osteuropastudien“ – hier stellt sich etwa die Frage, ob die russische Propaganda über diese Institute auch die Universitäten erreicht hat. Wie sieht nun die Zukunft von Osteuropastudien aus, sowohl inhaltlich als auch institutionell? RB: Können in der Entwicklung Unterschiede oder Parallelen zwischen den Vereinigten Staaten und Europa festgemacht werden? Welche sind das? Sedmak: In den USA werden Fragen tendenziell mit einem Fokus auf die Vereinigten Staaten bearbeitet – was bedeutet der Krieg in der Ukraine für die amerikanische Wirtschaft, für die amerikanische Militärpräsenz in Europa, für das Verhältnis der USA zur Volksrepublik China. Dazu kommt, dass in den USA ein substantieller Teil der Forschung von privaten Sponsoren unterstützt wird, was die Art der Projekte auch mit beeinflusst. Man kann wohl sagen, dass in den USA grundsätzlich ein pragmatischer Zugang verfolgt wird. In Europa sehe ich dagegen größere Chancen für eine globale Perspektive. Was den Krieg in der Ukraine betrifft, ist Europa jedenfalls geografisch wie auch emotional näher. Viele Menschen in den USA wähnen die Ukraine „weit weg“. RB: Wie ist die aktuelle Dynamik ethisch und moralisch zu bewerten? Sedmak: Eine der wichtigsten Perspektiven im 21. Jahrhundert ist die Idee eines globalen Gemeinwohls. Die Pandemie hat die globalen Vernetzungen auf nachdrückliche Weise vor Augen geführt. Das Virus hält sich nicht an Einreisebestimmungen. Der Krieg in der Ukraine verändert die globale Sicherheitsordnung. Das ist kein Krieg, der nur ein begrenztes Gebiet betrifft. Er hat, wie wir alle sehen, globale Auswirkungen. Und hier richtet eine Perspektive von eng geführten nationalen Interessen Schaden an. Der Blick auf das globale Ge-meinwohl wird uns auch dazu einladen, neben den Konflikten auf dieser Welt auch andere große Herausforderungen (vor allem die des Klimawandels) zu sehen und eine langfristige Perspektive einzunehmen. Was wir jetzt tun, wirkt sich auf die Generationen, die nach uns kommen werden, aus. RB: Wie sehen Sie die Rolle der Kirche? Wo können und sollen sich Wissenschaft und Kirche begegnen? Sedmak: Die Kirche atmet mit den beiden Lungenflügeln von Vernunft und Glauben. Sie ehrt die Vernunftbegabung des Menschen und die Idee von Wissenschaft. Die Idee der Universität in unserer Kultur wurde wesentlich von der Kirche mitgeprägt. Andererseits wird die Kirche der Wissenschaft weder das erste noch das letzte Wort geben. Die entscheidenden Fragen nach Sinn und Schöpfung, Gott und Heil, sind wissenschaftlich nicht lösbar. So erinnert die Kirche auch daran, dass es Dimensionen gibt, die sich der Bearbeitung mit wissenschaftlichen Methoden entziehen. Konkret: Wohin wir nach dem Tod gehen – ist eine Frage des Glaubens, nicht des Wissens. RB: Glaube ist das Stichwort zu Ihrem neuesten Buch „Gottsuche und Selbsterkenntnis im Gebet“. Was bedeutet Ihnen das Gebet? Sedmak: Beten ist das Atmen der Seele. Es tritt in so vielen Situationen auf, als Dank, als Lobpreis, als Flehen. Gerade auch dann, wenn die Luft knapp wird. Wenn ich mir vorstelle, wie Menschen in der Ukraine in den Luftschutzbunkern beten, dann zeigt sich, wie das Gebet Kraftquelle ist, wo die Lage, menschlich gesehen, aussichtslos scheinen mag. Beten ist Ausdruck unserer Suche nach Gott und sagt auch gleichzeitig viel über mich aus. Es gilt, die Sehnsucht nach dem Beten wachzuhalten. So verwundert es nicht, dass die Jünger Jesus gebeten haben: Lehre uns beten. Will heißen: Lehre uns atmen…
Inwieweit drückt sich im Beten menschliches Erkennen aus? Anhand der Vorstellung und Interpretation zentraler biblischer Gebetsszenen verdeutlicht Clemens Sedmak den inneren Zusammenhang von Gebet und Erkenntnis und stellt die existenziellen Sprachspiele von Erbitten und Flehen, Versöhnen, Ringen und Danken sowie die sich anschließenden Fragen vor. Clemens Sedmak, Gottsuche und Selbsterkenntnis im Gebet. Bitten, Flehen und Dank in biblischen Texten, Herder Verlag, 408 Seiten, 32 €, ISBN 978-3-451-39045-6. In diesem Buch führt Clemens Sedmak fiktive Gespräche: mit einem Journalisten, einer Therapeutin, einer Theologin, einem Historiker, einem Dichter, einer Mystikerin, einem Geschichtenerzähler, einer Philosophin …Die Texte machen deutlich, dass die vom Corona-Virus ausgelöste weltweite Krise eine Zeit kreativer Neuaufbrüche sein kann. Clemens Sedmak, hoffentlich. Gespräche in der Krise, Tyrolia-Verlag, 160 Seiten, 14, 95 €, ISBN 978-3-7022-3885-8.
Clemens Sedmak, geboren 1971 in Bad Ischl, studierte Theologie, Philosophie und Sozialtheorie in Innsbruck, Zürich, Maryknoll (New York) und Linz. Er promovierte 1995 in Theologie, 1996 in Philosophie. Im Jahr 1999 habilitierte er sich an der Katholisch-theologischen Privatuniversität Linz in Fundamentaltheologie, im Jahr darauf folgte die Habilitation in Philosophie an der Universität Innsbruck. Sedmak lehrte von 2001 bis 2005 als Professor für Erkenntnistheorie und Religionsphilosophie an der Universität Salzburg, dann am King‘s College in London. Er ist Leiter des Zentrums für Ethik und Armutsforschung in Salzburg und Vizepräsident des internationalen Forschungszentrums (ifz). Seit 2018 lehrt Sedmak an der University of Notre Dame (Indiana/USA) auf einem eigenen Lehrstuhl für Sozialethik (an der Keough School for Global Affairs). Während seiner ifz-Präsidentschaft von 2008 bis 2017 etablierte er neue Forschungsbiete und positionierte das kirchliche Forschungszentrum, das kürzlich sein 60-Jahr-Jubiläum feierte, als verlässlichen Partner bei Auftragsforschungen. Sedmaks Arbeitsgebiete reichen von Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie über Armutsforschung, Führungs- und Sozialethik (Welthunger, Arbeitswelt, Arbeitslosigkeit), bis hin zu Religionsphilosophie und -wissenschaft. Seit 2008 engagiert sich Clemens Sedmak in der Führungsethik und hat einen eigenen internationalen Lehrgang für Führungskräfte entwickelt. Clemens Sedmak ist verheiratet und Vater von drei Kindern. Der Autor zahlreicher Publikationen und Bücher – darunter auch welche mit Salzburger Erzbischöfen – wohnt in den USA und Seekirchen am Wallersee.
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