RB: Der moderne Mensch scheint stets ge-stresst und muss funktionieren. Wer hat noch Zeit und Kraft anderen zu helfen?
Markus Fellinger: Helfen und Hilfe zu empfangen sind Grundbedürfnisse des Menschen und werden es bleiben. Früher wurde noch an sechs Tagen in der Woche gearbeitet, heute reden wir von einer Vier-Tage-Woche. Das schafft Zeitressourcen. Außerdem gibt es heute die Gruppe der 60- bis 80-Jährigen. Sie sind gesund, haben Zeit und Geld. Das kann man mit ehrenamtlichen Tätigkeiten verbinden.
Die Frage ist, wie es um die Herzensbildung steht. Es ist ethisch schon fast Pflicht geworden, sich um sich selbst zu kümmern.Das ist eine moderne Form des Narzissmus. Alte Gesellschaftsformen wie Vereine, Kirche oder Parteien, wo Menschen aufeinander schauten, werden weniger. Helfen ist aber ein menschlicher Trieb, eine Veranlagung, die kultiviert werden muss.
RB: Sie sagen ein gesunder Mensch könne gar nicht anders, als helfen zu wollen. Ist jemand, der nicht hilft, im Umkehrschluss ungesund ?
Fellinger: Bis zu einem gewissen Grad stimmt dieser Umkehrschluss. Wenn Gott die Liebe ist und der Mensch ein Ebenbild Gottes, sind wir zur Liebe berufen und befähigt. Narzissmus ist sehr ungesund und geht am Wesentlichen des Menschen vorbei. Die schlimmste Form der Einsamkeit ist jene, die darin besteht, keine Adressaten für die eigene Liebe zu haben und auch selbst keine Bedeutung für andere zu haben. Anders gesagt: wer seine Kraft zu helfen und zu lieben verschwendet, wird glücklicher sein als jene, die sich aufsparen und Grenzen um sich aufbauen. Das führt nur zu Vereinsamung und zu einer Einöde des Lebens.
RB: Roboter sollen in Zukunft Aufgaben erledigen, für die bisher Menschen gebraucht wurden: Zuhause, im Pflegeheim und auch im Hotel. Wie verändert sich Hilfe?
Fellinger: Ich habe mit 60 Jahren die Brille eines alten Mannes auf. Die jüngeren Generationen wachsen mit dieser Hilfe auf. Wenn ein Roboter staubsaugt, bleibt mehr Zeit für anderes. In diesen Freiräumen werden sich menschliche Wärme und Beziehung einen Weg bahnen. Vielleicht haben Pflegekräfte mehr Zeit für Patienten. Ich bin optimistisch.
RB: Hilfsbedürftigkeit ist kein Mangel. Wie kann die Gesellschaft – vor dem Hintergrund, dass es immer mehr Pflegebedürftige geben wird – wieder zu dieser Erkenntnis gelangen?
Fellinger: Selbstständigkeit und Emanzipation sind gute Werte. Doch auch Angewiesen-Sein ist kein Mangel. Die gleiche Würde, die im selbstständigen Menschen liegt, liegt im Angewiesenen. Auch für mich selbst ist es schwierig, wenn ich Hilfe brauche. Aber in meinen Schwächen entsteht Beziehung, das hilft mir und den Helfenden.
Heute entwickeln sich Techniken enorm schnell, Fertigkeiten und praktisches Wissen älterer Menschen werden obsolet. Das führt zu einer Abwertung des Alters. Als Gesellschaft sollten wir gegen diese Entwicklung arbeiten, Lebenserfahrung ist ein hohes Gut. Es gibt Modelle, wo Kindergärten mit Pflegeheimen verbunden werden. Hier bekommen Kinder einen Bezug zu Alter und den Generationen vor ihnen, hier beginnt Herzensbildung.
RB: Während der Flüchtlingswelle 2015 gab es viele, die helfen wollten. Heute scheint der Wille, hilfs- und schutzbedürftige Menschen in Österreich aufzunehmen, verflogen …
Fellinger: Das liegt an der Politik. Sie hat gezielt gegen die Hilfsbereitschaft gearbeitet, hat Helfende nicht gefördert, sondern auflaufen lassen. Die Politik zeigt vor, dass es in Ordnung wäre, kaltherzig zu sein.
Sie verwendet Herzenshärte als Mittel mit Vorbildwirkung, um Menschen vom Helfen oder von Warmherzigkeit abzuschrecken. Ich finde das fatal. Ein positives Beispiel ist der Traiskirchner Bürgermeister. Er hat es geschafft, dass es in seinem Ort wenig Vorurteile gegen Flüchtlinge gibt.
Markus Fellinger, Jahrgang 1962, ist Leiter der evangelischen Gefängnisseelsorge in Niederösterreich und Sprecher der evangelischen Seelsorge Österreichs. Von 1990 bis 2005 war er Pastor der evangelisch-methodistischen Kirche in Salzburg.
Sein Buch „Hilfreich helfen – Soziales Engagement verantwortungsvoll gestalten“ (Tyrolia-Verlag 2023, ISBN: 978-3-7022-4101-8) stellt er am Mittwoch, 3. Mai, um 19.30 Uhr in der Salzburger Rupertus Buchhandlung, Dreifaltigkeitsgasse 12, vor.
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