RB: Gelenksschmerzen, Hautrunzeln, Schwermut – das Älterwerden gilt im Allgemeinen nicht als Honigschlecken. Jetzt kommen Sie, lieber Herr Mettnitzer, und sagen: Ich liebe das Älterwerden! Wie meinen Sie das?
Arnold Mettnitzer: Ich habe das Glück, ein Jahrzehnt in Rom gelebt zu haben. Da habe ich erfahren, dass der mediterrane Mensch mit größerem Respekt auf ältere Menschen schaut, als es in Österreich der Fall ist. Macht das Alter, wie der norwegische Erzähler Knut Hamsun sagt, „alt und sonst gar nichts“? In Italien habe ich gelernt: Das Alter ist die Transparenz des Lichts. Nie ist ein Menschenleben in den Augen der anderen so transparent wie im reiferen Alter. Die geronnene Erfahrung ist am deutlichsten sichtbar. Man sagt in diesem Zusammenhang auch: Mit dem Alter kommt die Weisheit. Wer aber aufmerksam älter wird, merkt, dass das Alter manchmal auch ganz alleine daherkommt. Das Alter per se ist noch keine Garantie für Weisheit. Aber ich weiß mich der südeuropäischen Sicht auf den Menschen verpflichtet, ihr verdanke ich viel.
RB: Das vierte Gebot lautet, du sollst Vater und Mutter ehren. Weil die Jungen aber von den Älteren lernen, sollte der Aufruf vielleicht eher an die Älteren ergehen: Du sollst deine Kinder ehren. Denn dann lernen diese von klein auf, Respekt zu haben.
Mettnitzer: Ein Lernprozess ist immer die gegenseitige Bereitschaft, voneinander zu lernen und miteinander den Horizont zu erweitern. Insofern ist das vierte Gebot durchaus so zu verstehen, dass man Vater und Mutter dann am einfachsten ehren und wertschätzen kann, wenn die Eltern und Großeltern auch das Ihre dazu beigetragen haben, dass sie sich dieser Ehre und dieses Respekts würdig erwiesen haben.
Es geht nicht von oben nach unten, sondern es geht im menschlichen Miteinander immer um Begegnung auf Augenhöhe, nicht um das Machtgefälle.
RB: Für die Fastenzeit bereiten Sie eine Serie mit sieben Liebeserklärungen an das Älterwerden vor. Wobei das Älterwerden ja nicht mit 60 beginnt …
Mettnitzer: Ich würde sogar sagen, vor der Wiege bis zur Bahre ist das Leben ein voranschreitendes Älterwerden und Die-Zeit-Bewältigen.
RB: Was ist das Besondere an den späteren Lebensetappen, am Altwerden?
Mettnitzer: Ein afrikanisches Sprichwort gefällt mir gut: Was ein älterer Mensch im Sitzen sieht, sieht ein Junger nicht einmal im Stehen. Das Besondere am Älterwerden ist der Weitblick. Dorothee Sölle sagt, dass man früher zu dem, was wir später „Seele“ genannt haben, „Erfahrung“ sagte. Es brennt sich alles, was wir erlebt haben, in unseren Erfahrungsschatz ein. Je länger wir mit offenen Augen und offenen Herzen leben, umso mehr haben wir in uns hineingeholt, und umso mehr können wir aus uns herausholen, um es einander anzubieten. Je älter wir werden, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir das, was wir als Kinder gelernt haben, auch verstehen.
RB: In Ihrem Buch „Die Veredelung der Zeit“ gibt es zwei rote Fäden: Begegnungen und Erinnerungen. Es gibt aber nicht wenige Menschen, die sich einsam fühlen. Wie kann man Einsamkeit überwinden?
Mettnitzer: Wir sind und bleiben Gemeinschaftswesen. Man braucht andere Menschen, um draufzukommen, wer man ist, was man kann. Ich brauche andere, um zu mir selber zu kommen, und der andere braucht mich, um sich als der zu erleben, der er in den Augen der anderen ist. Es gibt eine Tagebucheintragung von Jean-Paul Sartre, wo er sagt, er verlässt das Krankenhaus, in dem er einen Freund besucht hat, um ihn zu trösten. Beim Weggehen ist er ganz eigenartig berührt von der Erkenntnis, dass er nicht weiß, ob er jetzt den Kranken, den er besucht hat, mehr zu trösten wusste, als er getröstet und aufgebaut von diesem Besuch weggeht.
Marie von Ebner-Eschenbach sagt, dass die Menschen, denen wir eine Stütze sind, uns Halt im Leben geben. Es gibt diesen heiligen Tausch, der in jeder Begegnung passiert. In einem guten Miteinander müssen immer beide Seiten das Gefühl haben, dass es stimmt und dass es reicher macht.
RB: Manche Menschen haben besonders viele Erinnerungen und erzählen sehr viel. Das ist manchmal sehr unterhaltsam, aber nicht immer. Wie findet man das richtige Maß beim Teilen der Erinnerungen?
Mettnitzer: Du kommst dorthin, wohin du schaust. Gedanken sind unsere wirksamen Mächte. Ich mag das Wort Erinnerung, weil da die Innerlichkeit drinnen steckt. Die Bereitschaft, in uns hineinzuschauen, um in den Kellergängen des eigenen Herzens Nachschau zu halten – entweder nach den Leichen im Keller, dann werde ich vielleicht finden, was mich wenig erfreut, oder aber nach den dort liegenden, vergessenen kostbaren Weinen, die in der Zwischenzeit reif geworden sind und darauf warten, entdeckt und mit anderen genossen zu werden.
Insofern ist die Erinnerung eine Geschichte mit zwei Seiten. Entweder ich konzentriere mich auf das, was ich mir gewünscht habe, aber was nicht eingetreten ist, dann erzähle ich davon und sudere oder matschgere halt herum und bin unzufrieden. Oder ich konzentriere mich auf das, was mir gelungen ist.
Dankbarer Blick zurück
Wenn ich anfange, von gelungenem Leben zu erzählen, dann sage ich implizit immer auch: Ich habe etwas erleben dürfen, das nicht nur mit meiner Tüchtigkeit und mit meinem persönlichen Gutsein und Können zu tun hat, sondern mit dem, was mir geschenkt worden ist. Wer von einem gelungenen Leben erzählt, erzählt davon, was ihm geglückt ist, was er so nicht erwarten konnte. Das heißt, wer sich erinnert, ist gut beraten, vorher auf der Hut zu sein, wohin er schaut. Ein dankbarer Blick wird Dinge durch Erzählungen auch für andere kostbar machen.
RB: Das heißt, wenn man den eigenen Blick auf die positiven Dinge richtet, wird man damit andere weniger nerven.
Mettnitzer: Ja, Gemütszustände stecken an. Wer lamentiert, wer klagt, reißt andere in dieser Klage mit. Und wer sich freut, nicht mit happy-peppy-trallala, sondern mit einem klaren, dankbaren Blick für das, was möglich gewesen ist, der wird andere anstecken, auch darüber nachzudenken, was ihnen Glück bereitet hat.
Das ist auch der Hintergrund meines Buches „Die Veredelung der Zeit“ gewesen. Ich habe lange nicht gewusst, wie ich es anlege. Und dann habe ich mir gedacht: Wenn ich von mir erzähle und von dem, was ich in diesem meinem Leben an Begegnungen, an Erfahrungen, an Erinnerungen gesammelt habe, dann ist das keine Selbstdarstellung – dass ich den anderen sage, schaut, wie toll mein Leben gelaufen ist. Wer das liest, soll Appetit kriegen, selber in seinem Leben Nachschau zu halten.
RB: Ihre Gedanken begleiten uns durch die Fastenzeit. Hat Älterwerden auch etwas mit Fasten, mit Loslassen, mit Verzicht zu tun?
Mettnitzer: Ja, natürlich. Mit der Klugheit, sich auf das zu konzentrieren, was wir brauchen. Insofern ist eine Fastenzeit eine Gnadenzeit für Jung und Alt. Junge werden etwas anderes brauchen als Ältere, aber im Grunde kann sich niemand um die Frage herumdrücken: Was brauche ich jetzt, was tut mir gut, was ist mein Potenzial und meine Begabung, wem stelle ich sie zur Verfügung? Und wenn das gelingt, haben immer beide Seiten etwas davon.
Fastenserie: Liebeserklärungen ans Älterwerden
Arnold Mettnitzer schreibt in der Fastenzeit im Rupertusblatt! Für diese Serie holt der Psychotherapeut, Seelsorger und Bestsellerautor sieben kostbare Begegnungen aus seiner Erinnerung. Diese Woche gibt er bereits Tipps, wie man sich ins Älterwerden verlieben kann.
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Fastenserie mit Arnold Mettnitzer ab 9. März.
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