Aktuelles E-Paper
Der Jedermann ist seit 100 Jahren untrennbar mit der Fassade des Doms zu Salzburg verbunden. Das ist der offenen Kirchenführung in der Gründungszeit der Salzburger Festspiele zu verdanken. Ein Rückblick. Mehr als 700 Vorstellungen in einem Jahrhundert: „Der Jedermann betrifft uns jedes Jahr stark. Sehr stark sogar“, sagt Dietmar Koisser. Als Sakristeidirektor weiß er, wovon er spricht. Er war bereits selbst ein – wenn auch kleiner – Teil einer Inszenierung. „Da bin ich oben im Glockenstuhl gestanden und habe auf den Moment gewartet, wenn die Frist des Jedermann zu laufen beginnt. Dann habe ich die Glocke ein Mal geläutet und ein zweites Mal, wenn seine Frist abgelaufen ist“, berichtet Koisser und lächelt bei dem Gedanken daran, welchen Aufwand es brauchte, um den Klöppel der Glocke nach dem einem Schlag auch wieder zu stoppen. Ansonsten sei es Aufgabe des Dom-Teams, das Geläut während Proben und Aufführungen still zu halten. Was jedoch nicht immer geglückt ist. Koisser erinnert sich an einen lauten Schlag der großen Salvator-Glocke; ausgerechnet mitten in der Vorstellung. Was war passiert? „Da hat wohl jemand vergessen, sie vor dem Angelusgebet um acht Uhr am Abend vor Mariä Himmelfahrt auszuschalten“, vermutet er. Rieder und Reinhardt am Werk Dass Dietmar Koisser und die Dommesner noch heute, 100 Jahre nach der Premiere des Jedermann vor der Kulisse des Salzburger Doms, eingespannt sind, wenn der Vorhang während der Festspiele aufgeht, ist Erzbischof Ignaz Rieder zu verdanken. „Ein aufgeschlossener, seelsorglich ausgerichteter Mann ohne fürstliche Attitüde“ – so beschreibt der Salzburger Historiker Hans Spatzenegger jene Eminenz, die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs dafür zuständig war, die Kunst als Zeichen der Völkerverständigung in Salzburg auf die Bühne zu holen. Dabei öffnete Erzbischof Ignaz Rieder (1858–1934) dem Jedermann und seinem Spiel vom Tod des reichen Mannes nicht irgendeine Bühne in irgendeinem Teil der Stadt. Nein, er ließ sie vor der Fassade des Salzburger Doms aufbauen. Kritikern zum Trotz: Die Idee der Festspiele förderte er stets nach Kräften. Jedermann-Premiere war am 12. August 1920. Kontakt zu dem jüdischen Theaterdirektor Max Reinhardt, einem der Gründerväter der Festspiele, gab es bereits zuvor; diese Verbindung bezeichneten beide als „hohes Glück“. Reinhardt sagte, dass „die Pflege des kirchlichen Spiels eine der vornehmsten Aufgaben des bischöflichen Salzburg“ sei. So ist es wenig verwunderlich, dass auch Hofmannsthals „Salzburger großes Welttheater“ 1924 zur Uraufführung Heimat in einem Gotteshaus, nämlich in der Kollegienkirche, fand. Elemente nicht zu trennen Zurück zum Jedermann und seiner Spielstätte, die bei trockenem Wetter das Publikum (je nach Inszenierung) mit dem Untergehen der Sonne oder den Rufen von der Festung in seinen Bann zieht: In der Festschrift zum 100-Jahr-Jubiläum der Salzburger Festspiele ist Jedermann-Autor Hugo von Hofmannsthal zitiert. „Salzburg ist landschaftlich und architektonisch der stärkste Ausdruck des süddeutschen Barock, denn die Landschaft spielt hier so der Architektur entgegen, die Architektur hat sich gar so leidenschaftlich theatralisch der Landschaft bemächtigt, dass die beiden Elemente zu trennen undenkbar wäre.“ Bestandteil der Festspiel-DNA „Erheblichen Anteil am Erfolg des Jedermann in Salzburg hatte beim Spiel auf dem Domplatz die direkte Konfrontation des Theaters mit der Kirche, die auch die letzten Dinge verhandeln will, also die Begegnung zwischen Profanem und Spirituellem“, ist Jedermann-Regisseur Michael Sturminger heute überzeugt. Mit dem Domplatz habe Max Reinhardt einst einen Platz gefunden, wo er diese Pole in großer Theatralik aufeinanderprallen lassen konnte. Coronabedingt beginnen die Salzburger Festspiele in diesem Jahr mit 1. August statt bereits im Juli. Der Jedermann darf beim 100-Jahre-Jubiläum jedenfalls nicht fehlen. Er gehört zur DNA des Festivals, wie Sturminger betonte. Michaela Hessenberger Erzbischof Franz Lackner über die Festspiele „Kunstdinge sind ja immer Ergebnisse des In-Gefahr-gewesen-Seins“, schrieb Rainer Maria Rilke.Die ganze Welt war in Gefahr, als der Erste Weltkrieg wütete; Europa war in Gefahr, als aufgeteilt und zerteilt wurde; unser Land war in Gefahr, als die Monarchie zerbrach und Neues sich erst konstituieren musste. Das ist die geschichtlich-geografische Herkunft der Salzburger Festspiele – ein Kunstding von Weltrang. Auch die Welt von heute ist in Gefahr, vieles bedrängt und bedroht uns. Soziologen raten in Anbetracht der mannigfaltigen Herausforderungen und Bedrohungen zu einer neuen und vertieften Nachdenklichkeit. Seit nunmehr 100 Jahren wird vor dem Domplatz der Jedermann, das Sterben des reichen Mannes, aufgeführt. Bei der Erstaufführung im Jahre 1920 wurde am Schluss, nachdem die Tragödie doch zu einem guten Ende gekommen ist, nicht geklatscht. Es herrschte eine Atmosphäre der Betroffenheit und Nachdenklichkeit. Seit jeher waren die Festspiele mit ihren Bühnen Orte des Nachdenkens, der Reflexion und der Selbstbesinnung. Sie haben sich dem Anliegen verschrieben, das – noch einmal mit Rilke gesprochen – lauten könnte: „Lebe die Frage!“ Auch angesichts der aktuellen Krisen in der Welt fragen die Salzburger Festspiele ihr Publikum an, fordern es heraus und leisten zugleich einen Beitrag zur Versöhnung zwischen Menschen verschiedener Herkunft, Orientierung und Glauben. Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler über die Bedeutung der Kirche In kaum einer anderen Stadt ist die Symbiose von Kirche und Kunst so sichtbar wie in Salzburg, wo die prächtigen barocken Kirchenbauten das Stadtbild prägen und als stumme Zeugen an die längst verloschene weltliche Macht der Salzburger Kirchenfürsten erinnern. Auch bei der Gründung der Salzburger Festspiele war der Einfluss katholischen Gedankenguts zu spüren. „Das Festliche, Feiertägliche, Einmalige, das alle Kunst hat und das auch das Theater zur Zeit der Antike hatte und auch zur Zeit, da es noch in der Wiege der katholischen Kirche lag“, so Max Reinhardt, „das muss dem Theater wiedergegeben werden.“ Die Kirche, insbesondere die katholische, war für ihn die wahre Wiege des modernen Theaters: „Wie ein Stück in unsrer Zeit lebendig gemacht wird, das ist für uns entscheidend. Die katholische Kirche, deren Ziele die höchsten, die geistlichsten, die übernatürlichsten sind, verfolgt diese Ziele mit Mitteln, die sich direkt an unsere Sinne wenden.“ Ohne die tatkräftige Unterstützung von Erzbischof Dr. Ignatius Rieder wäre am 22. August 1920 der Jedermann auf dem Domplatz nie in Szene gegangen. In Ermangelung eines geeigneten Werkes und eines eigenen Festspielhauses, dessen Errichtung durch die galoppierende Inflation in weite Ferne gerückt war, setzte Max Reinhardt kurz entschlossen Hugo von Hofmannsthals Jedermann auf den Spielplan. Uraufgeführt hatte er ihn bereits 1911 im Berliner Zirkus Schumann, aber zum großen Erfolg wurde er erst vor dem Salzburger Dom. Der kunstsinnige und aufgeschlossene Erzbischof Rieder, dem „ein guter Jude wie Reinhardt lieber ist, als ein schlechter Christ“, erteilte die Genehmigung und erlaubte Reinhardt zudem die Domorgel und das Glockengeläut für die Aufführung zu nützen. So wurde tatsächlich, im Sinne Reinhardts, die ganze Stadt zur Bühne. Auch Hofmannsthals Calderón-Adaption „Das Salzburger Große Welttheater“ präsentierten die Festspiele im kirchlichen Ambiente. Hofmannsthal sah in der Kollegienkirche den idealen Ort für sein Mysterienspiel und versprach im Gegenzug dafür gleichzeitig die Reparaturarbeiten in Auftrag zu geben. Max Reinhardt verzichtete auf sein Honorar, Hugo von Hofmannsthal widmete seine Tantiemen je zur Hälfte der Renovierung der Kollegienkirche und der Festspielhausgemeinde, sodass die Kirchenerneuerung zu je einem Drittel aus Hofmannsthals Tantiemen, Mitteln der Festspielhausgemeinde und aus staatlichen Geldern finanziert wurde. Eine schöne Tradition, die wir mit Benefizaktionen für unsere kirchlichen Spielstätten Dom, Kollegienkirche und St. Peter fortgeführt haben.
Aktuelles E-Paper