Salzburg. Die Corona-Pandemie hat in unserem Leben so einiges verändert, darunter – als Reaktion auf die Lockdowns – die Verlagerung manch religiösen Rituals vom analogen in den digitalen Raum. „Das war für uns als Religionswissenschaftler sehr spannend“, sagt Martin Rötting von der Universität Salzburg, „denn was Religionen vor einigen Jahren noch als absurd abgetan hätten, die Beteiligung über Videos und Livestreams, war plötzlich ein guter Weg, um zumindest ein rudimentäres ,Mitmachen‘ zu ermöglichen. Und bis heute ist es so, dass viele religiöse Gemeinschaften das Streamen ihrer Gottesdienste und Rituale beibehalten haben – nicht nur im christlichen Raum, sondern weltweit.“
Die Teilhabe an religiösen Ritualen ohne Anwesenheit vor Ort habe übrigens schon länger eine „unterschätzte Rolle“ gespielt, meint der Experte: „Übertragungen von Gottesdiensten im öffentlichen Rundfunk haben in der Statistik sehr hohe Einschaltquoten. Vor allem den älteren Menschen, die nicht mehr so mobil sind, tun solche Angebote seelisch gut und geben Hoffnung.“
In einer Universitätsveranstaltung erörterte Martin Rötting auf Basis dieser Erkenntnisse für rund 100 Schülerinnen und Schüler die Frage: Wie kann und wird die Spiritualität der Zukunft aussehen? Virtuell oder real? Hat die „Virtual Reality“ – etwa mittels dreidimensionaler VR-Brille – mittelfristig das Zeug zum Ritualersatz? Dabei galt es zunächst zu definieren: Was macht eigentlich einen spirituellen Raum aus? In der Regel ist es eine Kombination von Handlung und Ort. Ein Platz wird zum Beispiel dann als religiös oder spirituell wahrgenommen, wenn Menschen auf eine bestimmte Art und Weise davon erzählen, etwa: „Ein großer Friede hat mich heimgesucht. Ich habe etwas Besonderes gespürt. Was ich dort gesehen und empfunden habe, hat mich tief berührt.“ Wichtig für die Spiritualität seien also stets „die Handlungen und Prozesse, die Menschen an einem Ort vollführen“, erklärt Martin Rötting.
An Beispielen mangelt es dem Experten nicht. „Denken Sie an die erste Umarmung, den ersten Kuss von einem geliebten Menschen – dann haben Sie zur Handlung vermutlich einen bestimmten Ort im Kopf, an den Sie sich auch zehn Jahre später beim Vorbeigehen noch erinnern. Genau das Gleiche gilt auch für die Spiritualität. Wenn uns etwas essenziell betrifft, verknüpfen wir in unserem Geist Handlung und Ort – und dadurch entstehen spirituelle Räume“, vergleicht Rötting anschaulich die Glaubens- und Alltagserfahrungen. Selbst eine Bibel, eine Kerze oder ein Kreuz im Herrgottswinkel des Hauses würden erst dadurch spirituell, dass jemand dazu betet oder meditiert.
Was spricht also dagegen, die gleiche Erfahrung virtuell mit einer VR-Brille zu machen? Da unterscheidet der Vortragende dann doch zwischen wissenschaftlichem und persönlichem Nutzen.
Für Forscher sei es natürlich sehr spannend, mittels „Virtual Reality“ Rituale zu vergleichen, etwa durch die VR-Brille die Kaaba in Mekka zu „betreten“ (was real nur Muslimen gestattet ist), in einer Höhle in Tibet zu meditieren oder dank virtueller Software eine längst zerstörte Synagoge aus dem 17. Jahrhundert in Vilnius zu „besuchen“. Doch weder Religionswisenschaftler noch Gläubige würden langfristig auf „echte“ Erfahrungen verzichten. Martin Röttings Fazit: „Ich glaube nicht, dass der durchgehende spirituelle Prozess der Selbstfindung komplett im Virtuellen stattfinden kann – und im Übrigen auch nicht ausschließlich in einer Kirche. Es braucht die gesunde Mischung von Alltag und Rückzug – diesen Puls zwischen Ruhe, Zurückziehen und wieder raus in die Gesellschaft. Oder wie die Benediktiner sagen: Ora et labora, bete und arbeite!“
Assoz.-Prof.Martin Rötting ist promovierter Religionswissenschaftler sowie Leiter der Religious Studies am Zentrum Theologie Interkulturell und Studium der Religionen, Universität Salzburg.
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