Marienerscheinungen faszinieren und fordern heraus. Da ist die Rede von Visionen und Auditionen, von Prophezeiungen und Heilungen. Aber erscheint die Gottesmutter wirklich? Es steht außer Frage, dass es Ereignisse gibt, die den natürlichen Rahmen sprengen. Aber ob Maria tatsächlich erscheint, lässt sich wissenschaftlich weder beweisen noch verneinen.
Gott hat sich den Menschen schrittweise zu erkennen gegeben – bis zu dem Punkt, dass er selbst Mensch wurde, um durch den menschgewordenen Sohn Jesus Christus die ganze Welt mit sich zu vereinen. In Christus hat Gott alles (nämlich sich selbst) gesagt, weshalb die Kirche lehrt, dass die Offenbarung abgeschlossen ist. Privatoffenbarungen, zu denen auch Marienerscheinungen gehören, können diese Offenbarung in Erinnerung rufen, erklären, aktualisieren; sie können die endgültige Offenbarung aber nicht ergänzen oder vervollkommnen. Mit Gewissheit können Marienerscheinungen das eigene Glaubensleben bereichern, können Trost und geistige Hilfe bieten.
Es ist zu begrüßen, dass die päpstliche Akademie „Pontificia Academia Mariana Internationalis” im April 2023 eine Beobachtungsstelle für Erscheinungen und mystische Phänomene im Zusammenhang mit der Gestalt der Jungfrau Maria eingerichtet hat und damit zur Bildung eines kritischen Bewusstseins beitragen will.
Wenn man von der kirchlichen „Anerkennung“ von Marienerscheinungen spricht, ist der deutsche Begriff „Anerkennung“ etwas missverständlich, weil damit leicht der Eindruck erweckt werden kann, als würde die Kirche mit der „Anerkennung“ die übernatürliche Herkunft der Marienerscheinung bestätigen. Das tut sie aber keineswegs. Vielmehr geht es bei der Approbation (Erlaubnis, Genehmigung, Billigung) um die Feststellung, dass die betreffende Privatoffenbarung nicht dem Glauben der Kirche widerspricht und das Zeugnis der Seherinnen und Seher menschlich glaubwürdig ist. Selbst solche Marienerscheinungen, die von der kirchlichen Autorität anerkannt worden sind, gehören nicht zum verbindlichen Glaubensgut.
Marienerscheinungen haben das Leben vieler Menschen nachweislich bereichert; entscheidend bleibt, diesen Erscheinungen (nicht) jenes Gewicht im Leben beizumessen, das ihnen (nicht) gebührt. Es gilt achtsam zu sein, wenn Erscheinungen und Botschaften für die persönliche Glaubensüberzeugung wichtiger werden als die Botschaft des Evangeliums, wenn eine regelrechte Sucht nach dem Übernatürlichen feststellbar wird. Eine überbetonte Orientierung an Marienerscheinungen kann dazu führen, sich gegenüber Personen, für die solche Phänomene wenig oder keine Bedeutung haben, im Besitz eines „tieferen“ Glaubens zu fühlen.
Martin Pezzei ist Theologe und Leiter des Amtes für Dialog der Diözese Bozen-Brixen.
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