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Mit dem Spruch des Herrn im Buch Levitikus (19, 2) „Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig“ mahnte einst der Apostel Petrus in seinem ersten Brief die Gläubigen in Kleinasien. Mit der Frage nach Heiligkeit beschäftigt sich die Kirche im heurigen Jahr auf besondere Weise, denn ein Heiliges Jahr ist es, das wir feiern – ein Jahr als „Pilger der Hoffnung“, wie der Papst es in seinem Motto vorgegeben hat.
Wie auch der Ruf des Apostels nach Heiligkeit haben die Heiligen Jahre ihren Ursprung im Judentum, zu dem der „Heilige in unserer Mitte“, wie der Prophet Hosea sagt (11,9), erstmals gesprochen hat. Alle fünfzig Jahre, so gebot es das Gesetz, sollte ein „schenat hajobel“ gefeiert werden – ein „Jahr des Widders“. Denn durch das Blasen auf hohlen Widderhörnern wurde dieses Jahr eingeleitet. In unserem Wort „Jubiläum“ lebt diese Tradition als Erinnerung fort. Ein solches Jubeljahr war verbunden mit Besitzausgleich und Schuldenerlass – sowohl im wirtschaftlichen als auch zunehmend im geistigen Sinne.
Schulden belasten uns in diesen Tagen leider rundum. Um die Schulden so mancher Firmen, ja sogar ganzer Staaten, die drohenden Zahlungsunfähigkeiten so vieler wissen wir durch die Berichterstattung nur zu gut. Es sind für viele gewiss schwere Zeiten und teilweise bedrohliche Tage, wenn sie nicht wissen, wie es um ihre Arbeit bestellt sein wird; wenn sie keine Planungssicherheit mehr für ihre Familien haben, wenn sie sich letzten Endes sorgen müssen, woher das tägliche Brot kommen soll. Es wird unser aller gemeinsame Anstrengungen brauchen, ein hoffnungsvolles Morgen zu gestalten.
Zahlungsunfähigkeiten, Insolvenzen seelisch-geistiger Natur beschäftigen uns aber auch als Kirche, als Gesellschaft, in der der Glaube zunehmend erodiert. Dies muss uns nicht nur als Gläubige betreffen, es ist auch eine Frage für jene unter uns, die mit dem Glauben hadern oder ihn bereits aufgegeben haben. Kardinal Christoph Schönborn, der nunmehr emeritierte Wiener Erzbischof, sagte dazu im vergangenen Dezember: „Wir wollen, dass Österreich christlich bleibt – aber was tun wir dafür?“
In Deutschland wiederum ergab die Kirchenmitgliedschafts-Untersuchung 2022, dass nur 25 Prozent derjenigen, die noch den Gottesdienst besuchen, dies tun, um „etwas vom Heiligen“ zu erleben. Ähnliches müssen wir auch für unsere Breiten annehmen. Heiligkeit, so scheint es, ist nicht „en vogue“. Doch sie weist über diese Existenz hinaus. Sie scheint gleich einem hellen Licht durch einen Vorhang in unser Dasein; sie geschieht in der Berührung mit Gott. Wenn wir genau hinsehen, vermögen wir sie rund um uns herum zu erkennen, im Kleinen und Alltäglichen, in den guten und barmherzigen Taten so vieler – ganz so, als würfe sie in solch gelebter Barmherzigkeit ihren Schatten in unsere Welt.
Fragen wir uns, wer und wie die Heiligen unserer Tage sein können, müssen wir zunächst eine der vielleicht schwersten Prüfungen bestehen: Wir müssen in den Spiegel blicken und uns fragen, wie Gott uns sieht, und wie wir wollen, dass er uns sieht. Vielleicht laufen wir dabei Gefahr, zu verzweifeln, Heiligkeit wäre für uns jeweils nicht erreichbar; vielleicht verbittern wird darüber sogar. Papst Franziskus aber sagt im Schreiben „Gaudete et exsultate“ (7): „Fürchte dich nicht davor, höhere Ziele anzustreben, dich von Gott lieben und befreien zu lassen. Fürchte dich nicht davor, dich vom Heiligen Geist führen zu lassen. Die Heiligkeit macht dich nicht weniger menschlich, denn sie ist die Begegnung deiner Schwäche mit der Kraft der Gnade.“
Folgen wir in diesen Tagen der Spur der Heiligkeit, personifiziert in Jesus Christus! Achten wir dabei darauf, dass wir uns durch sie nicht auszeichnen wollen – vielmehr, dass wir durch das Streben danach jenen einen bezeugen, der allein der wahre Heilige, der starke und unsterbliche Gott ist. Heiligkeit ist kein Etikett und kein Prädikat, sie ist eine Gnade, in der Gott in unser Leben hineinreicht. „Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin“, bekannte einst der Apostel Paulus (1 Kor 15,10). Der Allmächtige, der Heilige in unserer Mitte, ruft uns heute wie damals.
In der Fastenzeit, in die wir nun wie jedes Jahr eingetreten sind, legen wir unsere Schwächen und Verfehlungen dar, üben uns in guten Vorsätzen, wir achten auf Maß und freiwilligen Verzicht. Diese Bußzeit ruft uns zum Bekennen unserer Sünden und zur Umkehr – Umkehr meint dabei nicht zwingend ein „Zurückgehen“, sondern eine Kurskorrektur nach oben hin. Um das Bild erneut aufzugreifen: Wir bringen die Insolvenz unserer Seele vor Gott, den himmlischen Gläubiger, von dem wir nicht nur Recht, sondern vor allem Barmherzigkeit erbitten.
Wenn ich sage „erbitten“ dann meine ich ganz konkret auch beten. Das Gebet ist unser direktes Kommunizieren mit Gott, in dem wir unser Zweifeln, unsere Ängste, aber auch unseren Dank zu ihm tragen können. Dietrich Bonhoeffer sagte: „Das Gebet ist das schlechthin Verborgene. Wer betet, kennt sich selbst nicht mehr, sondern nur noch Gott, den er anruft.“ Jesus hat uns einst gelehrt, vertrauensvoll zu beten – „Bittet, so wird euch gegeben.“ (Mt 7,7). Und so werden auch die Heiligen unserer Tage große Beter sein, den Blick gen Himmel gerichtet.
Ein abschließendes Bild: Jesus erzählt im Evangelium ein wohlbekanntes Gleichnis, jenes vom Guten Hirten. Er lässt neunundneunzig Schafe zurück, um das eine zu finden, das verloren gegangen ist. Ich frage mich, ob es heute nicht zuweilen das Heilige, ja, Gott selbst ist, der uns verloren gegangen ist. Ihn zu suchen und zu finden, müssen wir vielleicht einige Dinge zurücklassen. Aber wenn wir ihn gefunden haben, wird die Freude übergroß sein.
Im Tagesgebet des heutigen ersten Fastensonntags haben wir Gott gebeten, er möge uns in der Erkenntnis Jesu voranschreiten und die Kraft seiner Erlösung in unserem Leben sichtbar machen. Darauf wollen wir uns einlassen – dass wir in Gott eintauchen und so bei den Menschen ankommen.
Gottes Segen sei auf euch in diesen Tagen, und mit herzlichen Wünschen grüße ich euch!
Euer
+ Franz Lackner
Erzbischof
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