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Den „Berg der Seligpreisungen“ gezeigt zu bekommen gehört zum Pflichtprogramm jeder Pilgerreise in Israel: ein kleiner Hügel direkt am See Gennesaret, gekrönt von einer Rundkirche, mitten in bunter Blumenpracht. So stellen wir uns das Ambiente der Seligpreisungen und der ganzen Bergpredigt vor.
Nüchtern muss man jedoch sagen: Hörerende und Lesende des Matthäusevangeliums, die mit biblischen Überlieferungen vertraut sind, haben einen ganz anderen Berg vor ihrem geistigen Auge, wenn davon erzählt wird, dass Jesus „den Berg“ hinaufsteigt, dort von seinen Schülern umringt wird, wobei die Menschenmassen am Fuß des Berges stehen (vgl. Mt 4, 24–25), die er von oben sieht und zu denen er am Ende seiner „Bergbelehrung“ wieder hinabsteigt. Völlig klar: Dieser Berg ist ein „literarischer“ Berg. Er ist im Buch Exodus zu finden, in der Sinai-Perikope, beim Bundesschluss Gottes mit seinem Volk. Szenerie und Inszenierung sind völlig analog zu den Vorgängen der „Bergpredigt“ im Matthäus-
evangelium. Im Buch Exodus ist es Mose, der auf den Berg hinaufsteigt und die Ältesten mit sich nimmt, während das Volk „unten am Berg“ steht und Mose immer wieder hinuntersteigt, um ihnen die Anweisungen Gottes (die Zehn Gebote) weiterzugeben.
Auf dem Berg Jesu muss niemand seine Kleider waschen und sich drei Tage vorbereiten auf das Ereignis. Niemandem wird der Tod angedroht, der den Berg mit Hand oder Fuß berührt. Keiner muss das Ertönen des Horns abwarten, ehe er sich dem Berg nähert. Von niemandem wird verlangt, sich drei Tage einer Frau zu enthalten. Nichts blitzt und donnert, raucht, schallt und qualmt. Nichts bebt. Weder von den Priestern noch vom Volk wird Distanz eingefordert und Gott droht auch nicht. Die Szenen sind so verschieden, wie sie nur sein können und die Stimmung ebenso.
Jesus redet in einem anderen Umfeld und mit einem anderen Blick auf die Menschen.
„Und er öffnete seinen Mund, er lehrte sie und sprach.“ Das Wort „lehren“ hat für unsere Ohren nicht dieselbe Bedeutung wie das Wort „predigen“.
Jedenfalls legt das „Lehren“ nahe, dass die Hörerinnen und Hörer in seiner Schule sind, bei Jesus etwas lernen: die Botschaft vom Himmelreich. Beginnt die Szenerie vom Sinai mit dem berühmten „Ich bin der Herr, dein Gott …“, dem dann die ersten Forderungen folgen, beginnt die Rede Jesu dagegen mit dem Wort „selig“, das Verheißungen einleitet. Eine neue Pädagogik tritt offensichtlich hervor.
Diesen, seinen Hörenden sagt Jesus zu: „Ihr seid das Salz der Erde; ihr seid das Licht der Welt.“ (Mt 5, 13–14) – ohne irgendeinen Auftrag und ohne Forderung; nur eine Feststellung: „Ihr seid.“
Was damals an Jesus fasziniert und begeistert hat, waren wohl weniger seine klugen Sprüche und Worte als vielmehr seine Praxis; sein konkretes Durch-die Gegend-ziehen mit den Feiern und Heilungen. Und diese Praxis gilt es fortzusetzen.
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