RB: Wie würden Sie die derzeit politisch unruhige Situation im Heiligen Land beschreiben?
Abt Nikodemus Schnabel: Es ist eine intensive Zeit einer neuen Ehrlichkeit. Es stehen Entscheidungen an. In der Stadt Jerusalem kulminiert alles. Jeder Quadratmeter ist aufgeladen: Religiös, voller Sehnsucht, auch immer mehr politisch. Gesetzesentwürfe der derzeitigen Regierung stellen de facto das infrage, worauf Israel lange stolz war: Wir sind ein säkularer Multi-Kulti-Staat. Mehrere Initiativen lassen einen erschauern, wie die Wiedereinführung der Todesstrafe.
Als Mönch freiwillig in Jerusalem habe ich eine privilegierte Stellung und fühle als Abt eine andere Verantwortung. Alle drei Religionen haben gute Argumente zu sagen: „Diese Stadt ist uns heilig.“ Das Tolle ist dieser Zauber, diese Mischung, dass Jerusalem eine Stadt ist, die vibriert. Das ist mein Jerusalem. Es erdet jeden Tag. Weil, es muss funktionieren, in dieser chaotischen Stadt, wo drei Religionen, mehrere Konfessionen aufeinandertreffen. Jerusalem ist der Praxistest für das, was man lebt und glaubt.
RB: Wie zeigt sich der derzeitige Christenhass und wie gehen sie damit um?
Schnabel: Eine Christenverfolgung gibt es nicht. Es ist nicht so, dass ich um Leib und Leben fürchten muss, wenn ich vor die Tür gehe. Aber Christenhass ist spürbar. Es gibt Menschen, die mich verbal angehen, mich anspucken, mich anrempeln. Wir erleben immer wieder, dass bei kirchlichen Gebäuden Scheiben eingeschmissen werden, Hass-Graffitis, Schändung von Friedhöfen, auch Verwüstung von Kirchen oder massive Übergriffe und Vorfälle. Neben dem Hass gibt es auch viel Solidarität. Es ist wie eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Ich hatte noch nie so viel Präsenz in den israelischen Medien. Das Interesse an uns wächst. Die Radikalisierung geht tendenziell von ultra-nationalen israelischen Gruppen aus, nicht mehr so sehr von islamistischen Gruppen. Die Ultraorthodoxen, Betenden sind in dem Sinne auch eher apolitisch. Die haben auch ihre Ecken und Kanten. Aber radikal sind, manche sagen „jüdische Neonazis“, die rufen „Israel den Juden, Nichtjuden raus“. Ich bekomme den Hass von jüdischer Seite ab, aber auch die ganze Solidarität und Liebe. Zu den Muslimen ist es eher leben und leben lassen.
RB: Heißt in diesem Zusammenhang intensiv auch gefährlich oder existenziell?
Schnabel: Ich habe keine Angst. Wenn man mich anspuckt oder mich verbal dumm anmacht, ist es unangenehm. Aber das ist keine Gefährdung für mein Leben. Ich bin freiwillig Mönch in Jerusalem. Ich weiß, auf was ich mich eingelassen habe. Ich habe eine privilegierte Stellung und deswegen fühle ich eine andere Verantwortung. Palästinensische Christen sind dort hineingeboren, haben nicht diese Bewegungsfreiheit. Wir haben ja eine doppelte Berufung als Benediktiner. Ich möchte dort leben, wo das Christentum entstanden ist. Dabei bin ich stark bei Patriarch Pierbattista Pizzaballa OFM, der zurzeit sehr betont, dass wir keine Gäste in Jerusalem sind. Alle drei Religionen haben gute Argumente zu sagen: „Diese Stadt ist uns heilig.“
RB: Nikodemus Schnabel als Christ und als Abt in Jerusalem: Sind es die gleichen Sehnsüchte, Beweggründe und Hoffnungen, die prägen?
Schnabel: Als gläubiger Mensch, als Mönch einfach da zu sein, von diesem ergriffen sein von Gott anderen weiterzugeben, erfüllt und trägt mich. Der Glaube wird jetzt sehr konkret. Als Abt in Jerusalem merke ich die Frage noch stärker: Wie wird der Glaube auch politisch relevant oder gesellschaftlich relevant? Jerusalem verbietet mir, abstrakt zu glauben. Jerusalem erdet einen jeden Tag. Weil, es muss funktionieren, in dieser chaotischen Stadt, wo drei Religionen, mehrere Konfessionen aufeinandertreffen. Jerusalem ist der Praxistest für das, was man lebt und glaubt.
RB: Gibt es gemeinsame Erlebnisse oder interreligiöse Projekte, die Sie in den 20 Jahren prägen?
Schnabel: Wenn wir Asylsuchende mitrechnen, ist das Christliche stark. Da ist viel gewachsen, zu erkennen, wer hat die Taufe wie ich? Da auch Brücken zu bauen, zu wissen und zu erkennen, dass wir Christen in diesem Konflikt um den Gazastreifen, die Westbank, um Israel auf allen Seiten sind und zum Teil Arabisch und Hebräisch sprechen. Beim Gazakrieg gab es schon immer christliche Opfer auf beiden Seiten.
In Tabgha am See Genezareth haben wir interreligiöse Begegnungen in einer speziellen Form. Wir haben beim zweiten Kloster ein Paradies mit sieben warmen Quellen. Schaukel, Wippe, Karussell für Rollstuhlfahrende, alles ist barrierefrei gebaut. Dort leben wir einen Teil unserer Berufung. In Jerusalem wollen wir geistige und geistliche Exzellenz verbinden, schon im 50. Studienjahr, wo ökumenisch, evangelisch, katholisch zusammenstehen, weil wir wie der biblische Ort dieser Speisung der 5.000 sind. Wir wollen teilen, was wir haben, mit den Menschen am Rande und in Tabgha vor allem mit behinderten Menschen jeden Alters, gerne auch mit Migranten. Unsere Gäste sind behinderte Menschen aus Palästina, Bethlehem, Muslime und Christen, arabisch Sprechende und jüdische behinderte Menschen aus dem Norden Israels. Sie sprechen zum Teil dieselbe Sprache, oft auch die Sprache „behindert“. Wir reden oft so verschieden, das behindert uns. Ich sage gerne Diplomaten und Journalisten: Wenn ihr droht, zynisch zu werden, kommt nach Tabgha, schaut unseren behinderten Menschen zu, wie die miteinander interreligiös umgehen und ihr glaubt wieder an den Weltfrieden. De facto ist es wahrscheinlich der erfolgreichste interreligiöse Dialog, den es gibt. Sie kommen auch bei uns mit ins Kloster. Das ist gelebte interreligiöse Begegnung, bei der es auch um eine barrierefreie Art und Weise geht.
RB: Wo kann Religion im politischen Israel-Palästina-Konflikt zur Lösung beitragen, wenn sie selbst nicht die Lösung sein kann?
Schnabel: Genau. Danke. Ich sehe nicht, dass Religion sich politisiert. Was ich sehe, ist, dass Politik sich religionisiert. Das ist das große Problem in Israel-Palästina. Da müssten wir als Religionsverantwortlicher stärker sagen: Dafür stehen wir nicht zur Verfügung. Erst mal glaube ich, dass Gott immer Versöhnung und Frieden will. Ich erlebe, dass Religionen und ihre heiligen Texte dieses Versöhnungs- und Friedenspotenzial haben.
Alle Religionen machen klar: Wir brauchen die Barmherzigkeit Gottes und letztendlich dürfen wir voll vertrauen, dass es Gott ist, der das zum Heil führt. Diese Haltung verändert eine Einstellung zum Leben, zum Mitmenschen. Wer Religion neu entdecken will und sich in die Stadt Jerusalem verlieben will, kann das um fünf Uhr morgens, wenn muslimische, jüdische und christliche Gläubige sich jeweils zum Morgengebet versammeln. Da sind nur religiöse, tief religiöse Menschen unterwegs, die vor der Arbeit schon beten. Die sind nicht das Problem und die haben auch keinen Hass aufeinander. Wenn die Leute sagen, Religion sei das Problem, dann müsste das die schwärzeste Stunde Jerusalems sein. Für mich ist fünf Uhr morgens die Zeit, wo man sich in die Stadt Jerusalem verlieben kann.
RB: Welche Aufgaben und Zukunftsthemen sehen Sie für Ihre Abtei in Jerusalem?
Schnabel: Wir wollen ein Ort sein, wo sich jeder willkommen fühlt, auch für die religiös etwas Unmusikalischeren. Deshalb haben wir viele Konzerte, ein großes Kunstprojekt, wo israelische und palästinensische Künstler ihre Werke ausstellen, Lesungen in unserer Kirche. Das wäre mein größter Wunsch: Wenn Menschen kurz über die Türschwelle gehen und sagen, bei euch ist es schön, hier fällt die Spannung ab, hier bin ich einfach gern. Wir haben deutschsprachige Auslandsseelsorge, das theologische Studienjahr. Das wollen wir weiterentwickeln, die Frage nach Gott wachhalten und einfach tun.
RB: Warum sollen Christinnen und Christen aus Österreich nach Jerusalem?
Schnabel: Unser Glaube hat seinen Ursprung dort. Es ist ein Entdecken der Wurzeln des eigenen Glaubens, wenn biblische Orte konkret werden. Segen zu empfangen, ist ja der ursprüngliche Gedanke einer Pilgerfahrt. Was mir Orte wie die Grabkammer so kostbar machen, ist, dass ich weiß, an diesen Ort kommen Christinnen und Christen seit Jahrhunderten.
Durch das Studienjahr haben wir auch immer wieder mal österreichische Studierende. Mit dem verstorbenen Ulrich Winkler hat ein Salzburger das theologische Studienjahr entscheidend mitgeprägt. Durch ihn hat Salzburg auch einen Stempel hinterlassen.
Zur Person
Nikodemus Schnabel, deutscher Benediktiner, ist Abt der Jerusalemer Dormitio-Abtei mit dem Kloster Tabgha am See Genezareth. Die Abtei liegt zwischen West- und Ostjerusalem. Bis zu 5.000 Pilgernde besuchen diese Orte pro Tag. Alle sollen sich willkommen fühlen, „auch die religiös etwas Unmusikalischeren“. Es werden eine deutschsprachige Auslandsseelsorge und das ökumenische theologische Studienjahr angeboten. „Weiterentwickeln, die Frage nach Gott wachhalten und einfach tun.“ Das ist Schnabels Vision seit 20 Jahren als Christ in Jerusalem.
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