RB: Wie sind die Menschen nach ihrer Vertreibung in Armenien angekommen?
Jasmine Dum-Tragut: Ich war gemeinsam mit zwei Studierenden ab dem 22. September in Goris und wir haben bereits am Montag darauf die ersten Vertriebenen in unserem Hotel gesehen. Als Erstes wurden jene gebracht, die durch die aserischen Angriffe im Osten und Norden Karabachs aus ihren Dörfern Hals über Kopf geflohen sind, und sich für Stunden, ja Tage, am Flughafen von Stepanakert, in der Nähe des Stützpunktes der russischen Friedenssoldaten, aufgehalten haben. Diese über 5.000 Menschen hat man als Erstes über die wieder geöffneten Korridore gebracht. Sie kamen an, völlig entkräftet, müde und hungrig. Nur mit dem, was sie am Leib trugen, ein paar Plastiksackerl. Stumm und mit großen feuchten Augen. In der Ecke saß ein junges Mädchen, schweigend, sie weinte, vor Müdigkeit fiel ihr Kopf auf den Tisch, aber ihr Körper erzitterte weiter unter dem Weinen. Die Kinder aßen mit Heißhunger das einfache Mahl, Reis, Kartoffeln. Und es gab Süßigkeiten, die sie sich gar nicht zu nehmen trauten. Und danach kamen sie in Massen, jeden Tage einige Zehntausende, mit Autos, Lastwägen, Traktoren, nahmen mit, was sie mitnehmen konnten. Alle waren relativ ruhig und stumm.
Die lange Zeit der Blockade, neun Monate, haben sie seelisch und natürlich körperlich stark mitgenommen. Für viele war es nur wichtig, essen und schlafen zu können und zur Ruhe zu kommen. In den ersten Tagen habe ich mit niemandem darüber gesprochen, was sein wird. Niemand wollte darüber sprechen. Und ich hab auch niemanden gezielt gefragt, es tat mir selbst zu weh, die Menschen weinen oder trauern zu sehen. Ihre Hilflosigkeit und Ratlosigkeit hat auch mich stumm gemacht. Meinen Studierenden erging es ähnlich.
RB: Wie geht es den Menschen, die in Armenien angekommen sind – sie haben ja nicht nur die Flucht hinter sich, sondern sehr schwierige Monate (Jahre) und jetzt die Ungewissheit wie es weitergehen wird.
Jasmine Dum-Tragut: Sie haben neun Monate mit großer Zuversicht, großer Hartnäckigkeit und Willensstärke (wofür die Karabach-Armenier schließlich bekannt sind), all das Leid ertragen, das die Aserbaidschaner durch ihre Blockade des Korridors verursacht haben: Eingesperrt sein, frieren, Durst, Hunger, Auszehrung, Krankheiten, bis hin zum Verlust von Angehörigen, Frühgeburten durch Mangelernährung, die Toten nicht begraben, sein Land nicht bestellen, das Vieh nicht versorgen zu können, Kinder, die nicht in die Schule oder Kindergarten gehen können. Die Aserbaidschaner haben sie gezielt in ihrem ganzen Leben gestört und sie daran gehindert, normal zu leben. Das ist ein Genozid lt. Artikel 2,2 der UN-Genozidkonvention.
Die Flucht war für viele nicht vorauszusehen. Es war eine Vertreibung der großen Klasse, die viele an die Vertreibung der Armenier aus ihren Dörfern und Städten in die Syrische Wüste im Jahr 1915 erinnerte. Die Menschen wissen nicht, was auf sie zukommt. Derzeit sind sie noch im Schock, dennoch in einer gewissen Sicherheit. Viele glauben noch an eine Rückkehr. Wenige haben erst begonnen, nach vorne zu blicken. Doch die Realität wird sie schnell einholen. Sie wurden in Hotels oder Heimen untergebracht, in Armenien hat es seit dem Karabachkrieg 2020 wieder vermehrt Auswanderung gegeben, so konnten viele in leerstehende Häuser in Dörfern oder in Wohnungen in der Stadt ziehen. So schnell wie möglich, in einen normalen Lebensrhythmus zurückfiinden, wäre wichtig. Doch das wird schwierig sein, viele werde psychologische Betreuung benötigen.
RB: Neben der großen humanitären Katastrophe, geht es auch um das christliche Erbe. Was bedeutet die Massenflucht für die Diözese Karabach?
Jasmine Dum-Tragut: Es gibt keine Diözese Karabach, eigentlich Artsach mehr. Alle Geistlichen, auch Bischof Vrtanes Abrahamyan haben Artsach verlassen. De jure besteht die Diözese Artsach noch und wird vermutlich auch noch als historischer Name weiterbestehen, de facto nicht mehr. Bischof Vrtanes war angesichts dieser Tatsache zutiefst erschüttert, dennoch realistisch: eine Kirche ohne Gläubige kann keine Kirche bleiben. Die Hilflosigkeit ist groß, was das Kulturerbe betrifft. Die negativen Erfahrungen mit Aserbaidschan haben gezeigt und lassen befürchten, dass viele der Kulturdenkmäler, wie schon während der Friedenszeiten zwischen 1994 und 2020 in Nachitschevan und in Aserbaidschan passiert sind, zerstört und vandalisiert werden.
Welche Hoffnung kann man haben, wenn Aserbaidschan die historische Existenz der Armenier in Nachitschevan dem Erdboden gleichgemacht hat und alle Kirchen und Klöster zerstören ließ, auch den hoch- und spätmittelalterlichen Friedhof von Dschulfa mit an die 10.000 Kreuzsteine und dann dort einen Militär-Truppenübungsplatz errichtet hat. Was soll man tun, wenn Aserbaidschan schon seit Jahren versucht, armenische Kirchen durch das Abschlagen von armenischen Inschriften oder Kreuzen zu entarmenisieren und anderen Christen zuzuschreiben? Was kann man tun, wenn Aserbaidschan keine internationalen Organisationen in die Region vorlässt?
Es ist fast ein aussichtsloser Kampf, den die armenische Kirche durchaus mit der Unterstützung lokaler und internationaler Experten und Organisationen zur Erhaltung des christlichen Kulturerbes in Karabach aufgenommen hat. Wir müssen einfach alles tun, um zumindest eine Auswahl der wichtigsten frühchristlichen und heiligsten Stätten der armenischen Kirche im nun aserbaidschanischen Karabach zu bewahren und zu beschützen. Und auch alles, dass diese Kulturdenkmäler tatsächlich als armenische Kulturdenkmäler ausgewiesen werden. Es droh zumindest ein ähnliches Schicksal wie dem armenischen Kulturgut in der Türkei: zwischen Zerstörung, teilweiser Anerkennung und einfacher Tatenlosigkeit, was heißt, das Kulturgut wird einfach der Zerstörung durch die Zeit ausgesetzt.
RB: Der Rat der europäischen Bischofskonferenz formulierte die Hoffnung auf Verhandlungslösungen und das Recht auf Rückkehr der Vertriebenen. Ist das realistisch?
Jasmine Dum-Tragut: Meiner Einschätzung nach ist die Rückkehr der Vertriebenen aus heutiger Sicht sehr unrealistisch. Nach all dem, was die Menschen in den letzten neun Monaten ertragen müssen, wird vielen das pure Überleben wertvoller sein als ihr Hab und Gut, ihr Land. Sicher sind die Menschen sehr verwurzelt, aber man wird vieles versuchen, das Karabach-Armeniertum als solches so gut wie möglich zu bewahren. Derzeit ist es notwendig, die Sicherheit und Souveränität Armeniens zu bewahren und durch internationale Verträge, wenn möglich internationales Monitoring, Grenzwächtern oder Friedenssoldaten zu bewahren. Die Angst davor, dass Aserbaidschan auch den Süden Armeniens einzunehmen versucht, ist sehr realistisch. Es muss alles, wirklich alles getan werden, den Vertriebenen Sicherheit in Armenien zu geben und auch allen Armeniern.
Der Einsatz der europäischen Bischofskonferenzen, wie auch des World Council of Churches ist bedeutend und wird vor allem von der armenischen Kirchenführung psychologisch als sehr wichtig erachtet. Aber es sollte mehr sein, als nur Hoffnung zu formulieren, es sollten Forderungen und Bedingungen an Aserbaidschan gestellt werden, an den Schutz des christlich-armenischen Kulturerbes und auch des Schutzes der Republik Armenien und des letzten verbliebenen orientalisch-christlichen Staates der Welt. Denn das ist Armenien. Man sollte das sich unbedingt vor Augen halten!
RB: Armenien ist kein reiches Land. Kann es diese große Anzahl von Vertriebenen versorgen? Welche Hilfe braucht es jetzt am dringendsten?
Jasmine Dum-Tragut: Armenien ist alles andere als ein reiches Land. Nicht umsonst heißt es im Volksmund, Aserbaidschan ist reich an Öl, Georgien reich an Schwarzmeerküste und Armenien nur reich an Geschichte. Davon kann man Menschen nicht ernähren, noch dazu wo in den letzten Jahren, auch durch die Ukraine-Krise das Leben in Armenien sehr teuer geworden ist. Durch den rasch erfolgten Zuzug von auch fast 100.000 Russen ist das Preisniveau vor allem in den Städten sehr gestiegen. Mit diesen teureren Lebenshaltungs- und Wohnungspreisen wird es für die armenische Kirche und die armenische Regierung sehr schwierig sein, auf längere Zeit die über 100.000 Vertriebenen zu versorgen. Und da geht es nicht nur um Lebensmittel, Hygiene, Kleidung oder ein Dach über den Kopf. Da geht es um medizinische Versorgung, viele sind durch die Blockade psychisch und physisch stark in Mitleidenschaft gezogen; es geht auch um Ausbildung und den Zugang zum Arbeitsmarkt.
Armenien muss endlich auch mehr in die dörflichen Regionen sehen, die schon lange Zeit ein Stiefkind der Entwicklung und Förderung waren. Förderung von landwirtschaftlicher Produktion, in die man die Vertriebenen geschickt einbinden kann, der Großteil der Karabach-Vertriebenen stammt aus dem ländlichen Milieu, sind Kleinbauern gewesen.
Die Hilfe, die nun am dringendsten benötig wird, ist sicher gezielte finanzielle Unterstützung zur Gewährleistung der Versorgung aller Vertriebenen mit dem Notwendigsten, und, was man vergisst, auch der Unterstützung der Helfer. Ich habe gesehen, wie nach einer Woche die Köchinnen im Hotel aus Müdigkeit völlig überfordert waren, sie haben jeden Tag von 7 Uhr morgens bis Mitternacht ihr Bestes getan, die Vertriebenen zu versorgen und zu bekochen. Dasselbe gilt für die wirklich grandios arbeitenden Einsatzkräfte des armenischen Roten Kreuzes. Auch sie werden Unterstützung benötigen. Bedeutend und dringlich ist auch die moralische Unterstützung, endlich aus dem Westen zu zeigen, dass man die Armenier doch nicht alleine gelassen hat, dass man sie zumindest jetzt unterstützt (wo es zu spät ist), und dass man nun bereit ist, hellhörig und mit offenen Augen, das verfolgt, was sich nun in dieser Region tut, wie sich Aserbaidschan weiter verhält. Und auch nicht vor einer Verurteilung von Aserbaidschan zurückzuschrecken und öffentlich endlich Zivilcourage zu zeigen. Für ein kleines christliches Fleckchen Land mit 1.500 Jahren christlicher Geschichte oder mehr sogar, das nun innerhalb einer Woche aufgehört hat zu existieren. Ich werde persönlich nicht müde werden, für Karabach und sein bedeutendes christliches Erbe einzutreten.
Hintergrund
Armenier siedelten schon seit der Antike in Karabach. Seit dem 4. Jahrhundert ist die Region christlich geprägt. In der Geschichte kam es zu vielen Fremdherrschaften. Nach dem Zerfall der Sowjetunion gipfelten der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan im ersten Karabachkrieg. Armenien siegte, 1994 wurde die Republik Arzach ausgerufen. Doch der de-facto-Staat gehörte staatsrechtlich nach wie vor zu Aserbaidschan, das 2020 einen Teil zurück eroberte.
Mit der jüngsten Offensive ist das Ende der armenischen Enklave im Kaukasus besiegelt. Ab 1. Jänner 2024 gibt es Bergkarabach nicht mehr – faktisch hat es mit dem Massenexodus schon jetzt zu existieren aufgehört.
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