Mindanao. Im Mittelpunkt der aktuellen Aktion Familienfasttag der Katholischen Frauenbewegung steht die globale Sorgekette und die damit untrennbar verbundene Ausbeutung von Frauen. Auf den Philippinen ist Arbeitsmigration besonders weit verbreitet. Was das für Frauen und die zurückbleibenden Kinder bedeutet, berichtet kfb-Projektpartnerin Inorisa Sialana.
Die Familie trifft sich zum Abendessen. Was sich ganz normal anhört, ist für Cyra Joy Reloba etwas Unbekanntes. Sie hat in ihrem Alltag keine Mutter und keinen Vater, denen sie bei gemeinsamen Mahlzeiten von ihren Schulerfolgen oder einem Streit mit ihrer besten Freundin erzählen könnte. Beide Elternteile arbeiten im Ausland. Ähnlich wie der 16-Jährigen ergeht es auf den Philippinen bis zu sechs Millionen Kindern. Weil die Eltern als Arbeitsmigranten Geld verdienen müssen, sind ihre Töchter und Söhne bei Omas und Tanten untergebracht oder in jungen Jahren schon auf sich alleine gestellt.
„Es ist für alle ein tief sitzender Schmerz. Bei jenen, die gehen und bei denen, die zurückbleiben. In den Familien entstehen Lücken, die für gewöhnlich von anderen Frauen gefüllt werden. Pflegebedürftige Angehörige oder kleine Kinder brauchen Betreuung“, beschreibt Inorisa Sialana die Folgen, wenn Familien auseinandergerissen werden und das über Jahre.
Auf der anderen Seite bedeutet das Einkommen als Bauarbeiter in Dubai oder als Kindermädchen in London das Überleben der Familien auf den Philippinen. „Der Lohn sorgt dafür, dass jeden Tag genug Essen auf den Tisch kommt und ermöglicht den Kindern den Schulbesuch.“ Inorisa (Nori) Sialana ist Mitbegründerin und Leiterin des „Mindanao Migrants Center for Empowering Actions Inc. (MMCEAI)“, das Migrantinnen und Migranten sowie ihre Familien unterstützt.
Es geht nicht um Verbote, sondern um Schutz vor Missbrauch und Ausbeutung.
Nori kennt alle Facetten von Arbeitsmigration – aus eigener Erfahrung weiß sie, es geht allzu oft nicht gut aus. „Meine Motivation ist mein verstorbener Bruder, der während der Kriegszeit im Irak war. Er kam mit leeren Händen und zu einer völlig zerrütteten Familie zurück.“ Trotzdem: „Für mich ist Migration ein Menschenrecht.“ Es gehe nicht darum, etwas zu verbieten, sondern um den Schutz vor Ausbeutung, Missbrauch und Gewalt. Arbeitsmigration und ein menschenwürdiges Leben dürfen sich nicht länger ausschließen. Doch genau das sei häufig der Fall.
Mehr als 2,3 Millionen Philippinas und Philippinos arbeiten im Ausland (Overseas Filipino Workers, kurz OFWs), davon rund 54 Prozent Frauen. Ihr Einkommen finanziert nicht nur ihre Lieben daheim, sie sind ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Die hohen Rücküberweisungen machen mehr als zehn Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus und der Staat verdient mit Gebühren am Arbeitskräfte-Export.
Schätzungen zufolge kommt noch eine ähnlich hohe Summe an Waren und Bargeld aus informellen Kanälen ins Land. Das verbessert die Zahlungsbilanz der Philippinen, hat aber ihren Preis, den die zurückgelassenen Kinder, Jugendliche, Kranken und Alten zahlen, die von Sorgearbeit abhängig sind.
Und wie geht es den Arbeitsmigrantinnen und -migranten selbst? „Viele fühlen sich wie an die Wand gestellt. Sie sehen keine andere Chance“, erzählt Nori Sialana, die genau das ändern möchte: „Arbeitsmigration soll nur eine Option unter mehreren sein. Es braucht Alternativen, also nachhaltige Arbeitsplätze vor Ort.“ Sialana bringt das Beispiel von Krankenschwestern: „Ihre Ausbildung ist sehr teuer. Doch im Beruf liegt der Verdienst nur bei rund 200 Euro im Monat. Das reicht nicht zum Leben. Deshalb verlassen viele die Philippinen. Während der Coronapandemie bekamen wir die Rechnung dafür. Uns fehlte Pflegepersonal. Die Lage war sehr schlimm“, beschreibt die MMCEAI-Geschäftsführerin was „Braindrain“, also die Abwanderung von qualifizierten Arbeitskräften, bedeutet. Ihre Aufgabe sieht Sialana deshalb auch darin, die Entscheidungsträger in die Pflicht zu nehmen. „Dazu ist der Dialog wichtig und zwar mit allen Entscheidungsträgern. Wir sind im Austausch mit politischen wie kirchlichen Vertretern.“
Die Schritte zur Verbesserung sind klein. „Die Philippinen leiden wie viele Länder weltweit unter den aktuellen Teuerungen. Die Armut bei uns war zuvor schon sehr groß und Corona hat die Lage vieler Menschen noch weiter verschärft.“ Mit ihren Mitstreiterinnen steht Nori den Arbeitsmigrantinnen und -migranten auf der Insel Mindanao zur Seite. So hat die Organisation etwa ein Warnsystem aufgebaut, die unseriöse Agenturen kennzeichnet.
„Je verzweifelter die Menschen sind, desto leichter fallen sie auf illegale Anwerbung oder falsche Versprechungen herein und landen im Menschenhandel.“ Mittlerweile gebe es einige Agenturen, die mit MMCEAI zusammenarbeiten. „Wir machen ihnen klar, dass sie Verantwortung tragen, dass sie sich für faire Arbeitsbedingungen einsetzen müssen.“
Geld ist wichtig für unsere Projekte, aber die Solidarität macht uns stark.
Der eigentliche Fokus des Zentrums liegt nach wie vor auf den Bildungs- und Aufklärungsprogrammen sowie der konkreten Hilfe für Familien. „Damit erreichen wir mehr als 1.000 Menschen.“ Möglich macht das auch die Partnerschaft mit der Katholischen Frauenbewegung in Österreich. „Wir brauchen Geld für unsere Projekte und wir sind für die Unterstützung unendlich dankbar“, sagt Nori Sialana. „Aber die Solidarität berührt uns sehr. Wir müssen oft kämpfen und dann zu wissen, wir sind nicht alleine, gibt uns Kraft zum Weitermachen.“
Die 16-jährige Cyra Joy Reloba meistert ihren Alltag ohne Eltern mittlerweile gut. Sie kann auf ihre Tante Cecile Reloba zählen. Sie sorgt sich um Cyra und die anderen Kinder ihrer Geschwis-ter, die alle im Ausland sind. Und beide, Tante und Nichte, engagieren sich heute für andere betroffene Familien. „Ich habe viel gelernt, vor allem über unsere Rechte als Kinder und über das Leben und die Situation unserer Eltern“, sagt Cyra.
Ihr größter Wunsch an die Regierung: „Es soll endlich Jobs auf den Philippinen geben, in denen die Menschen genug verdienen. Dann ist das Arbeiten im Ausland nicht mehr notwendig.“
Was ist eigentlich Sorgearbeit?
Sorgearbeit, die auch als Care-Arbeit bezeichnet wird, bezieht sich auf alle bezahlten und unbezahlten geleisteten Tätigkeiten, bei denen Menschen für andere sorgen oder für die alltägliche Versorgung anderer zuständig sind. Sorgearbeit umfasst unzählige Bereiche: die Pflege von Kranken und Alten, die Betreuung von Kindern, Kochen, Putzen und vieles mehr.
Sorgearbeit ist überwiegend weiblich. Wird sie ausgelagert, dann vor allem an Arbeitsmigrantinnen. Die Aktion Familienfasttag setzt sich für die Aufwertung von Care-Tätigkeiten ein. Ungleichheiten und Folgen sichtbar zu machen, nach Ursachen zu fragen und diese zu überwinden, ist dabei Herausforderung und Auftrag zugleich.
Infos: www.teilen.at
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