RB: Wie geht es Ihnen? Sie waren so viele Jahre an der Seite von Papst Benedikt XVI. Sie schreiben in Ihrem Buch auch von der „Päpstlichen Familie“ (von „unserer kleinen Familie“), zu der sie gehörten. Wie sieht Ihr Leben derzeit aus?
Erzbischof Georg Gänswein: Der Um- und Auszug aus dem Kloster Mater Ecclesiae ist inzwischen abgeschlossen. Die meisten meiner Sachen waren zehn Jahre lang in Kartons, im Kloster hatte ich nur ein kleines Zimmer. Meine neue Bleibe ist ganz in der Nähe des Gästehauses „Santa Marta“, wo Papst Franziskus wohnt. Uns trennen räumlich keine 100 Meter Luftlinie.
Gegenwärtig bin ich dabei, das sehr detaillierte Testament von Papst Benedikt zu vollstrecken: Die Bibliothek, die Manuskripte, die Schriften und die Korrespondenz sind bereits an den für sie bestimmten Plätzen. Jetzt geht es noch um das Verteilen der persönlichen Sachen Benedikts wie Bilder, Gemälde, Statuen oder liturgische Gewänder und Geräte. Er hat schriftlich festgehalten, wer womit bedacht werden soll.
RB: Sie sind gerade auf Buchtour mit „Nichts als die Wahrheit“. Es sorgte für reichlich Diskussionen. Es gab Stimmen, die etwa den Zeitpunkt des Erscheinens kritisieren oder die sagen, sie finden es nicht richtig, dass vertrauliche Dinge veröffentlicht werden. Können Sie die Kritik nachvollziehen?
Gänswein: Was mich selbst überrascht, negativ überrascht hat, war der Zeitpunkt des Erscheinens des Buches in Italien. Die Ankündigung erfolgte viel zu früh, unmittelbar nach dem Tod von Benedikt. Das zu stoppen, war leider nicht mehr möglich. Ich wollte, dass die Veröffentlichung in einem größeren zeitlichen Abstand erfolgen sollte. Was die Kritik betrifft: Begründete Kritik nehme ich mir zu Herzen, unbegründete lediglich zur Kenntnis.
Zur Kritik: Ich habe mich nur gefragt, hat er oder sie das Buch überhaupt gelesen hat odernur das Inhaltsverzeichnis?
Bei der Lektüre bestimmter Beiträge stieg in mir die Frage auf: Haben der Autor oder die Autorin das Buch wirklich gelesen oder nur das Inhaltsverzeichnis kurz überflogen und das herausgegriffen, was „Sprengstoff“ zu bieten schien: zum Beispiel meine vermeintliche „Verstimmung“ gegenüber Papst Franziskus oder das angeblich „spannungsreiche“ Verhältnis zwischen Benedikt und Franziskus.
Mit Unterstellungen und Halbzitaten wurde nicht gespart. Eine in diesem verminten Feld erfahrene Person hat mir den weisen Rat gegeben: Was Sie da lesen müssen, ist natürlich unangenehm für Sie und wird auch bei Menschen, die Sie schätzen, auch in vatikanischen Kreisen, nicht sonderlich Freude wecken, aber vertrauen Sie auf die gesunde Urteilskraft der Menschen, die das Buch dann auch wirklich lesen und sich nicht von Schlagzeilen in die Irre führen lassen.
RB: Was hat Sie letztlich dazu bewogen „Nichts als die Wahrheit“ zu schreiben?
Gänswein: Vor Jahren schon haben mich Menschen gefragt, ob ich Tagebuch schreibe, was ich verneinte. Sie meinten, ich müsse unbedingt meine Erfahrungen und Erlebnisse an der Seite von Papst Benedikt schriftlich festhalten, da ich ihn am besten kennen würde. „Das, was von Benedikt verschiedentlich berichtet, kritisiert, beurteilt und in die Öffentlichkeit transportiert wurde, das bedürfe eines Korrektivs“, so die Kernaussage. Nach und nach ist bei mir die Überzeugung gewachsen, dass da etwas dran sei. Im großen Konzert der Stimmen, Bücher, Beiträge, Artikel, die nach dem Tod des Emeritus erklingen werden, solle die meine nicht fehlen.
RB: Sie haben gesagt, Ziel des Buches sei es, „schlichtweg Benedikt so darzustellen, wie er war, weil eben eine ganze Reihe von Zerrbildern herumgeistert“.
Gänswein: Sehr massiv war es im vergangenen Jahr, als das Gutachten zum Umgang mit sexuellem Missbrauch im Erzbistum München und Freising veröffentlich wurde, und es hieß, Benedikt habe in seiner Stellungnahme gelogen. In der Tat ist dort ein Fehler unterlaufen, aber es war keineswegs die Absicht, die Unwahrheit zu sagen oder gar etwas zu vertuschen. In einer Presseerklärung wurde unmittelbar danach klargestellt, dass ein Irrtum passiert sei und wie es dazu kam. Es ging um die Präsenz oder Absenz bei einer Ordinariatskonferenz (Anm. in Zusammenhang mit dem Fall eines Priesters). Einer unserer Experten hat das Datum einer Sitzung verwechselt. Dem Protokoll war zu entnehmen, dass der damalige Erzbischof von München und Freising, Kardinal Ratzinger, bei der Sitzung am 15. Jänner 1980 anwesend war, hingegen nicht bei jener am 22. Jänner. Diese beiden Daten wurden verwechselt. Deshalb war die Angabe in der Stellungnahme falsch, ja das war ein Fehler. Aber ein Irrtum ist keine Lüge. Doch genau dieser Eindruck ist geblieben.
Das Narrativ, Benedikt habe gelogen, wurde medial zementiert und geistert noch heute in vielen Köpfen herum. Ich habe Benedikt, einen Mann mit 94 Jahren, noch nie so leiden sehen. Das hat mich zutiefst erschüttert. Diese Erfahrung war der letzte Anstoß für das Buch. So etwas dürfe nicht mehr vorkommen. Ich habe Papst Benedikt dann im vergangenen Oktober, als ich die Überzeugung gewann, mit dem Buch wird es etwas, davon berichtet. Er hat mich gefragt, ob ich es für notwendig erachte, dieses Buch zu schreiben. Ich bejahte und fügte hinzu, dass ich lange darüber nachgedacht und gebetet habe. Dann tragen Sie dafür auch die Verantwortung, so Benedikts Antwort. Das war mir klar, und dieser stelle ich mich auch.
RB: Es hat geheißen, Papst Franziskus war verärgert über das Buch. Wie ist Ihr Verhältnis?
Gänswein: Mir gegenüber hat Papst Franziskus das nicht geäußert, als ich bei der Audienz am 9. Jänner mit ihm unter anderem über das Buch gesprochen habe. Franziskus meinte lediglich, ich solle mich jetzt nicht ins Bockshorn jagen lassen. „Sie wissen, Schlagzeilen halten in der Regel nicht, was sie versprechen.“ Mein Verhältnis zu Papst Franziskus ist unverkrampft und offen.
RB: Was bleibt von Benedikt XVI.? Was macht für Sie in wenigen Sätzen sein theologisches Erbe aus?
Gänswein: Das theologische Erbe ist erst noch zu heben. Bleiben wird seine brillante Sprache, die dem Glauben sprachliche Tiefe und neue Strahlkraft verliehen hat. Bleiben werden seine kristallklare Darstellung der katholischen Lehre, seine ermutigenden Lehrschreiben, seine eindrücklichen Predigten und nicht zuletzt seine scharfen Zeitanalysen.
Benedikts theologisches Erbe: Da ist noch ein großer Schatz zu heben.
Die Hebung und Sicherung des theologischen Erbes ist insbesondere dem „Institut Papst Benedikt XVI.“ in Regensburg anvertraut, das zwei wichtige Ziele verfolgt: Zum einen alles zu sammeln, was Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI. geschrieben und verkündet hat und ebenso alles, was über ihn geschrieben wurde.
Zum anderen gibt das Institut die „Gesammelten Schriften“ Joseph Ratzingers heraus, in dem der theologische Schatz eines ganzen Lebens enthalten ist. Darüber hinaus bemühen sich die deutsche und die vatikanische „Stiftung Joseph Ratzinger“, das Vermächtnis dieses Meisters der Theologie den Gläubigen, insbesondere jungen Theologen, zugänglich zu machen. Ich bin sozusagen ein Bindeglied zwischen diesen genannten Institutionen. Das theologische Erbe aufzuarbeiten, ist und bleibt eine ebenso große wie schöne Herausforderung und Aufgabe.
RB: Der verstorbene Papst Benedikt war oft in Salzburg. Haben Sie ihn begleitet? Wie ist Ihre Beziehung zu Salzburg?
Gänswein: Die Familie Ratzinger war in der Nähe von Salzburg zuhause, die Kinder sind dort aufgewachsen. Salzburg hat Joseph Ratzinger geprägt, nicht nur die Musik Mozarts, die ganze Kultur hat er in sich aufgesogen. Er hat oft mit seinen Geschwistern in Bad Hofgastein Urlaub gemacht, noch bis kurz vor der Wahl zum Papst. Leider war ich nie zusammen mit Papst Benedikt in Salzburg.
Mein Bezug zu Salzburg sind in erster Linie die Festspiele, die ich seit vielen Jahren besuche, wenn es mir zeitlich möglich ist. Anmerken möchte ich aber auch ein schönes Erlebnis, das mich vor fast 40 Jahren als junger Kaplan mit einer Gruppe Ministranten für einige Tage in die Mozartstadt geführt hat, wo wir wunderbare Tage auf einem Ferienlager verbracht haben, unvergesslich bleibt auch der „Schnürlregen“.
RB: Als Sekretär haben Sie sich ganz in den Dienst des Papstes gestellt? Wie sehr mussten Sie sich dabei selbst zurücknehmen?
Gänswein: Ich habe mich gern und mit ganzem Herzen in diesen Dienst gestellt. Freilich war es zeitlich aufwendig und kräftemäßig teilweise ein Marathon. Aber das hat mir nichts ausgemacht. Natürlich hatte das auch einen persönlichen Preis. Freizeit und private Vorlieben mussten zurückgestellt werden.
RB: Was waren für Sie die prägendsten Erlebnisse?
Gänswein: Was emotional am stärksten bleibt, sind die Wahl zum Papst und die Amtseinführung im April 2005, der Amtsverzicht im Februar 2013, die beiden Monate danach in Castel Gandolfo und die letzten Tage seines Lebens, sein Sterben und sein Tod.
RB: Wohin führt Sie Ihr Weg? Es wurde berichtet, Sie werden Apostolischer Nuntius in Costa Rica?
Gänswein: Was kommt, weiß ich nicht. Papst Franziskus hat noch nicht entschieden, was er mit mir vorhat, welchen Dienst er mir übertragen möchte. Costa Rica war ein „Fake News“. Ich habe auf diese „Nachricht“ hin zahlreiche Mails und WhatsApp-Nachrichten bekommen. Die einen haben mir zu Costa Rica gratuliert, die anderen kondoliert. Im Augenblick bin ich froh, Zeit zu haben für die Aufgaben, die ich als Testamentsvollstrecker zu erledigen habe. Freilich bin ich neugierig, was in Zukunft auf mich wartet.
Das Buch und Umgang mit Kritik
Beinahe drei Jahrzehnte begleitete Erzbischof Georg Gänswein Papst Benedikt XVI. bis zu dessen Tod. Gänswein kennt Joseph Ratzinger als Glaubenspräfekten in Rom, er war einer der wichtigsten Vertrauten in seiner Zeit als Papst. Darüber und über die Jahre nach dem Rücktritt schreibt er im Buch „Nichts als die Wahrheit“. Verfasst habe er das Buch im Laufe des Jahres 2022, die letzten Stellen kurz vor dem Tod Benedikts.
Schon Wochen vor seinem Erscheinen machte das Werk Schlagzeilen und gab Anlass zu heftigen Diskussionen. Unter anderem wurde kritisiert, dass schon vor der Beisetzung des ehemaligen Papstes am 5. Januar erste Auszüge in Medien erschienen. Gänswein selbst bezeichnet das als negative Überraschung, die ohne sein Zutun zustande gekommen sei. Zur inhaltlichen Kritik: Berechtigte nehme er sich zu Herzen, unberechtigte lediglich zur Kenntnis. Jedenfalls empfehle er, das ganze Buch zu lesen und nicht nur die Überschriften und sich erst dann ein Urteil zu bilden. Gänswein ist überzeugt, sein Buch helfe auch, „das Verhältnis von Papst Franziskus zu Papst Benedikt besser zu verstehen“ „Es gab keine zwei Päpste“ und „keinen halben Rücktritt“, betonte er dazu im ORF-Interview.
Georg Gänswein, „Nichts als die Wahrheit. Mein Leben mit Benedikt XVI.“, Herder 2023, 320 S., 28,80 € (AT) ISBN: 978-3-451-39603-8.
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